Die Fußgängerlobby stärken!

„Es gibt halt leider keine Fußgängerlobby“, war in den letzten Jahren oft mein resignierter Schlusssatz, wenn ich mal wieder von einem Streit mit einem Radfahrer oder einer Radfahrerin erzählte, der mich in ohnmächtiger Wut zurückgelassen hatte. Beispielsweise, wenn ich in der Stadt auf dem Gehweg von einem Radfahrer zu einem Sprung zur Seite genötigt worden war. Oder wenn mir beim Wandern auf einem schmalen, steilen Wanderweg ein Mountainbike-Fahrer in hohem Tempo entgegenkam oder mich, von hinten kommend, mit oder ohne Klingeln erschreckte. Oder wenn die Antwort auf meine Standardsätze „Das ist hier kein Radweg“ oder „Sie dürfen hier nicht fahren“ ein genervtes „Ja ja“ war – oder gar eine üble Beschimpfung, einmal sogar mit unverhohlener Gewaltandrohung –, wobei natürlich in unvermindertem Tempo und mit großer Selbstverständlichkeit weitergefahren wurde.

Irgendwann hatte ich mein Gejammer und Geschimpfe satt und sah mich nach einer Möglichkeit um, wie ich politisch dazu beitragen könnte, dass die Interessen der Zu-Fuß-Gehenden mehr berücksichtigt werden. Und siehe da: Ich entdeckte im Internet, dass es mit Fuss e. V.  längst eine Interessenvertretung für Fußgänger und Fußgängerinnen gab. Nachdem ich mich auf deren Homepage und Facebook-Seite über die Geschichte dieser Bewegung und ihre zahlreichen Aktivitäten informiert hatte und wegen meiner Unwissenheit darüber auch etwas beschämt war, kann ich nun nicht mehr behaupten, es gäbe keine Fußgängerlobby. Doch die Frage bleibt, warum diese Fußgängerlobby in den Medien und politisch so wenig in Erscheinung tritt, dass ich, die sich schon seit vielen Jahren mit den Konflikten zwischen Rad- und Fußverkehr beschäftigt, tatsächlich noch nie etwas von ihr gehört hatte.

Als Erklärung fand ich historische und politisch-wirtschaftliche Gründe:

Lange waren Fußgänger- und Fahrradlobby gemeinsam unterwegs, um sich gegen die allgegenwärtige Bevorzugung des Autoverkehrs zu wehren. Das ist auch immer noch wichtig, wo es um zugeparkte Geh- und Radwege und potentielle Abbiegeunfälle durch PKWs und LKWs geht.

Doch viele Verbesserungen, die dem Radverkehr zugestanden wurden, gingen zunächst einmal auf Kosten der Fußgängerwege. Schließlich wollte man ja den Autoverkehr möglichst wenig am „Fließen“ hindern. Gehwege waren daher plötzlich nur noch halb so breit oder Zu-Fuß-Gehende sollten sich den Raum mit den Radlern teilen, was noch nie gut funktioniert hat. Denn mit der Rücksichtnahme, die hier verlangt wird, ist es nun mal nicht weit her, zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse und das Tempo, mit dem man unterwegs ist. Auch wo RadfahrerInnen auf Fußwegen nur eine Mitbenutzung gestattet wird, fehlt das Bewusstsein, dass Fußgänger hier Priorität haben und nicht einfach weggeklingelt werden dürfen. Ganz schlimm ist es, seit Kinder und inzwischen auch noch deren Aufsichtspersonen auf Gehwegen fahren dürfen. Seither benutzen immer mehr Radler – zumindest in meiner Stadt – die Gehwege selbstverständlich mit, wo das für sie bequemer und manchmal vielleicht auch sicherer ist. Schließlich hat eine nun erwachsen gewordene Generation schon von Kindheit an gelernt, dass sie FußgängerInnen auf die Seite scheuchen kann, wenn sie schnell oder gar klingelnd mit ihren Rädchen daherkommt.

Da das illegale Radfahren auf Geh- und Wanderwegen fast nie sanktioniert wird, und wenn es schon mal vorkommt, die Geldbußen lächerlich gering sind, ist es inzwischen weder in der Stadt noch auf dem Dorf oder auf schmalen Wanderwegen in der Natur möglich, sich als Fußgängerin entspannt fortzubewegen. Ich weiß von einigen betagten Menschen, dass sie sich kaum noch aus dem Haus trauen. Auch ich vermeide es, in die Stadt zu gehen, wenn ich zu müde bin, um den Dauerstress durch ständiges potentielles Erschreckt-Werden zu ertragen.

Inzwischen sind die Fahrräder auch noch viel schneller geworden und ihre Zahl nimmt weiter zu. Das ist aus ökologischen Gründen zweifellos erfreulich, auch die Wirtschaft freut sich, dass mehr und teurere Räder gekauft werden. Aber für Zu-Fuß-Gehende bedeutet es, dass sie noch mehr ins Hintertreffen geraten, denn an ihnen kann ja auch kaum jemand etwas verdienen. So ist es kein Wunder, dass die Lobbyverbände der Radler viele ihrer Forderungen durchsetzen können, da die Ausweitung des Radverkehrs in vielen Gemeinden nun endlich auch von politischer Seite unterstützt wird. Und Zu-Fuß-Gehende verlieren noch mehr ruhigen Verkehrsraum, beispielsweise durch die Radschnellwege, die in den Städten geschaffen werden und manchmal sogar durch Parks geleitet werden, die vorher reines Fußgängergebiet waren. Bei dem Tempo, mit dem Radler inzwischen unterwegs sind, ist ein gemeinsames Benutzen von Wegen den Zu-Fuß-Gehenden inzwischen nicht mehr zumutbar. Der Rad- und Fußverkehr müsste strikt getrennt werden, überall, vor allem auch draußen in der Natur.

Da ich auch mit dem Rad und hin und wieder sogar mit dem Auto unterwegs bin, kenne ich die jeweils andere Perspektive: Beispielsweise das Ausgebremst-Werden durch Zu-Fuß-Gehende, die einfach nicht zur Seite gehen, weil sie in ein Gespräch vertieft sind, vor sich hin träumen oder Stöpsel in den Ohren haben. Da ist es gut, es nicht eilig zu haben, damit kein Ärger aufkommt. Als die Stärkere kann ich dann Rücksicht nehmen, langsam heranfahren und die Leute freundlich bitten, mich vorbeizulassen. Umgekehrt kann ich jedoch gegen ein auf mich zurasendes Fahrrad nichts anderes tun als ihm hinterherzuschimpfen, nachdem ich mich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit gebracht habe. Ich weiß nicht, was hier mit gegenseitiger Rücksichtnahme gemeint ist. Dass ich Rädern ausweiche, ist reiner Selbstschutz.

Bei Fuss e.V. fand ich unter anderem auch eine sehr gute Zusammenstellung der Konfliktherde zwischen Rad- und Fußverkehr. Das Bewusstsein ist also da, dass wir nicht immer die gleichen Interessen haben. Zum Glück gibt es diesen Lobbyverband für Zu-Fuß-Gehende schon, er muss nicht erst noch gegründet werden. Dass mehr von seiner Arbeit in den Medien sichtbar wird und dass – hoffentlich bald – auch Erfolge zu verzeichnen sind, dafür braucht es noch viel Unterstützung. Es wird Zeit, dass es auch in meiner Stadt und Gegend einen Ortsverband von Fuss e.V. gibt.

Vermögen abschöpfen mit „kriminalistischem Bauchgefühl“

Unter den Überschriften „Kripo geht ans Vermögen der Täter“ und „Clans müssen um ihr Geld fürchten“ berichtete meine Zeitung über die Auswirkungen einer Reform des Strafgesetzbuchs, die am 1. Juli 2017 in Kraft trat. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Vor- und Nachteile dieser Reform damals breit in den Medien diskutiert worden wären. Als die Änderungen still und leise beschlossen wurden, waren wir mit der Reform des Sexualstrafrechts beschäftigt und freuten uns darüber, dass strafrechtlich endlich „Nein heißt nein“ gelten sollte. So erfuhren wir nicht, dass es einen neuen Strafrechts-Paragraphen 76 a „Selbständige Einziehung“ gibt, der die Abschöpfung mutmaßlich unrechtmäßig erworbenen Vermögens erlaubt, und zwar auch dann, wenn die Tat nicht im Einzelnen nachgewiesen wurde.

In den Artikeln über die Folgen jener Reform wird der Schwerpunkt der Berichterstattung darauf gelegt, dass es nun möglich ist, Kriminellen Geld und Wertsachen abzunehmen und diese an die Geschädigten weiterzugeben. Damit wird der Eindruck erweckt, diese Reform sei eine gute Sache, von der wir alle möglicherweise profitieren können. Im weiteren wird aus Sicht der Finanzermittler berichtet, die sich darüber freuen, wie sehr ihnen die neuen Paragraphen die Arbeit erleichtern.

Mir wurde jedoch schnell klar, wie gefährlich diese Gesetzesänderung für Menschen dann ist, wenn sie zu Unrecht verdächtigt werden. Und plötzlich verstand ich auch, warum in meinem direkten und weiteren Umfeld in den letzten Monaten Dinge geschehen konnten, die mich zweifeln ließen, ob in unserem Land grundlegende Prinzipien des Rechtsstaats noch gelten: „Keine Vorverurteilungen“, „Im Zweifel für den Angeklagten“ und „Verhältnismäßigkeit der Mittel“. Das heißt, dass entsprechende Beweise vorliegen müssten, bevor „durchgegriffen“, also beispielsweise eine Hausdurchsuchung angeordnet wird, und dass die Ermittler ihren Verdacht beweisen müssten und nicht die Verdächtigten ihre Unschuld. Vor allem im ersten Artikel wurde als positiv dargestellt, dass nun die Schwelle, um durchzugreifen, niedrig sei und der einfache Tatverdacht, also das „kriminalistische Bauchgefühl“, genüge.

Ich finde es mehr als fahrlässig, sich auf ein kriminalistisches Bauchgefühl der Ermittler zu verlassen. Wenn wir das Pech haben, in den Fokus solcher Ermittler zu geraten, finden wir uns plötzlich als ohnmächtige Untertanen in einem Obrigkeitsstaat mit kafkaesken Zügen wieder. Und das kann jeden und jede treffen. Es kann beispielsweise durch die Denunziation eines unzufriedenen Kunden passieren, die den Ermittlern plausibel erscheint. Im zweiten Artikel wurde immerhin erwähnt, dass auch der Bundesgerichtshof Zweifel an der Rechtmäßigkeit der hier hochgelobten Art der Vermögensabschöpfung hat und insbesondere die Umkehr der Beweislast kritisch sieht.

Immerhin besteht ja noch die Möglichkeit, sich einen Rechtsbeistand zu nehmen und gegen das Vorgehen der Ermittler zu klagen. Doch dies bedeutet aufgrund der unglaublich hohen Anwaltshonorare in der Praxis, dass sich ein riesiger Schuldenberg anhäuft, auf dem man schließlich sitzenbleibt, weil immer mehr Fälle durch sogenannte „Vergleiche“ zum Abschluss gebracht werden. Auch an dem, was ich mir früher unter „Unabhängigkeit der Justiz“ vorstellte, habe ich daher inzwischen erhebliche Zweifel. Denn „Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei“, das wissen die „kleinen Leute“ schon lange.

Ich habe den Verdacht, dass das Sprudeln der Steuerquellen in den letzten Jahren auch mit dieser Reform zu tun hat. Es ist leider keine Seltenheit, dass kleine und mittlere Unternehmen durch Steuerprüfungen, bei denen eben auch mit „kriminalistischem Bauchgefühl“ gearbeitet wird, um möglichst viel „Vermögen abzuschöpfen“, in ihrer Existenz bedroht werden. Durch das grundsätzliche Misstrauen der PrüferInnen, durch aberwitzige Unterstellungen und Verdächtigungen und das offen geäußerte Ziel, möglichst viel Geld aus der Prüfung herauszuschlagen, kann einem der Glaube an eine gerechte freiheitlich-demokratische Ordnung schnell abhanden kommen. Da kann sich der Horror einer solchen Prüfung auch einmal über Jahre hinziehen und einem die Freude am Leben und am Arbeiten gründlich vergällen.

Mehr Bildung mit weniger Schule

Illichs Engagement für andere Möglichkeiten des Bildungserwerbs hatte zunächst viel damit zu tun, dass er die hohe wirtschaftliche Belastung beim Aufbau von Schulsystemen nach westlichem Muster in Entwicklungsländern wahrnahm. Vor allem empörte ihn die Ungerechtigkeit, dass die ganze Bevölkerung dafür bezahlen musste, während nur ein verschwindend kleiner Teil in den Genuss dieser Bildungsangebote kam. Und die Herausgefallenen oder Abgewiesenen wurden in den wenigen Jahren ihres Schulbesuchs auch noch mit dem Glauben infiziert, dass sie selbst an ihrer zukünftigen Unterlegenheit schuld seien.

Illichs Vorschläge gehen daher an vielen Stellen vom kleinen Bildungsetat in armen Ländern aus. Dieser Etat würde nämlich genügen, „um einer großen Zahl von Kindern und Erwachsenen Jahr für Jahr einen Monat intensiver Bildung zu ermöglichen“, außerdem würde er auch noch für die Verteilung von pädagogischen Spielen an die Familien reichen sowie für wiederkehrende Abschnitte einer intensiven Lehrlingsausbildung. Illich wünscht sich, „dass jeder Puertoricaner das Recht auf einen gleichen Anteil am Bildungsbudget hat. Das ist etwas ganz anderes und viel Konkreteres als das bloße Versprechen eines Platzes in der Schule“ (Schulen helfen nicht, S. 18/19). Er denkt über eine Art Grundrecht nach, nach dem jede Person eine genaue Vorstellung davon hat, welche Mittel für Bildungszwecke ihr zustehen und wie sie sich diese verschaffen kann. An anderer Stelle spricht er von einer „Bildungskreditkarte“ in der Hand jedes Staatsbürgers (Schulen helfen nicht, S. 134 u. 153).

Statt Kinder und Jugendliche viele Jahre ihres Lebens in Klassenzimmern einzusperren und weitgehend von der Welt fernzuhalten, möchte er die pflichtmäßige Schulzeit radikal auf ein bis zwei Monate jährlich verkürzen, doch dann soll sich diese Art formeller Bildung über die ersten zwanzig oder dreißig Jahre im Leben jedes Menschen erstrecken. In der übrigen Zeit müsse auch noch Raum für Muße bleiben und Zeit, um eigenen Erkenntnissen nachzugehen. Illich möchte die Schulpflicht also keineswegs ganz abschaffen, sondern sie in gewisser Weise sogar ausweiten. Dabei denkt er neben ansprechenderen Bibliotheken auch an eine subventionierte Umgestaltung industrieller Anlagen und anderer Arbeitsplätze, um dort ebenfalls Lernmöglichkeiten zu schaffen. Fabriken sollten sich zudem verpflichten, in der arbeitsfreien Zeit als Ausbildungsstätten zu dienen (Schulen helfen nicht, S. 32 und 133). Die bildende Wirkung aller Institutionen müsse wieder zunehmen. Dafür müssten wir lernen, „die soziale Bedeutung von Arbeit und Freizeit daran zu messen, wie viel Nehmen und Geben in puncto Bildung sie ermöglichen“ (Entschulung der Gesellschaft, S. 37).

Obwohl Illich 1970 noch nichts von den ungeheuren Bildungsmöglichkeiten des Internets wissen konnte, geht er davon aus, dass die Technik bereitstehe, „um entweder Unabhängigkeit und Lernen oder Bürokratie und Lehren zu fördern“ (Entschulung S. 85). Die Technik könne uns Zugang zu jeder Art von „Bildungsgegenständen“ verschaffen. Bildungsgegenstände sind erstens „Dinge und Verfahren“, über die wir durch direkte Anschauung etwas lernen können, zweitens „Fertigkeitenbörsen“ mit den entsprechenden Bildungsgutscheinen und drittens eine „Lernpartner-Vermittlung“ bzw. „Nachweisdienste für Erzieher aller Art“. Statt mehr Bildungstrichtern bräuchten wir mehr Bildungsgeflechte. Solche Geflechte stehen uns heute in großem Maße zur Verfügung, unter anderem können auch soziale Netzwerke uns Zugang zu zahlreichen Bildungsmöglichkeiten verschaffen. „Würde man die jungen Menschen vom frühesten Alter an dazu anregen, andere zu treffen, zu beurteilen und auszuwählen, so würde damit für ihr ganzes Leben ihr Interesse daran geweckt, sich für neue Bemühungen neue Partner zu suchen“ (Entschulung, S. 98/99).

Ich bin sicher, dass die Umsetzung von Illichs Vorschlägen, bzw. ihre Erprobung und Weiterentwicklung, mehr Menschen mehr Bildung ermöglichen könnte, ohne dass dies eine große wirtschaftliche Belastung wäre. (Für ihn ist unser jetziges Bildungssystem eine riesige Verschwendung – an Geld, an Lebenszeit, an menschlichem Potential). Was es so schwer macht, Illichs Ideen überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist die Tatsache, dass Schule, die wir mit Bildung gleichsetzen, in ihrer jetzigen Form aus unserem Denken und Erleben einfach nicht wegzudenken ist. Vor allem können wir uns nicht vorstellen, wo die vielen jungen Menschen dann hin sollen, die jetzt in Schulen gepackt werden. Und natürlich muss sich einiges ändern, damit junge Menschen an vielen anderen Orten einfach „dabei sein“ können. Doch dies könnte unseren verknöcherten gesellschaftlichen Institutionen nur gut tun.

Ich denke, dass an dieser Stelle unsere Vorstellungskraft genauso versagt wie bei der ersten Konfrontation mit der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens, die vor etwa zehn Jahren auch noch als vollkommen verrückt galt und inzwischen von immer mehr Menschen als durchaus realisierbare Möglichkeit betrachtet wird. In mancher Hinsicht hängen beide gesellschaftlichen Umgestaltungen auch zusammen. Denn damit ein Bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren kann, brauchen wir ein anderes Bildungssystem, das es immer mehr Menschen ermöglicht, ihre Bildung selbst in die Hand zu nehmen, um ihr eigenes kreatives Potential zu entwickeln. Es sollte Menschen zum lebenslangen Lernen ermutigen, anstatt ihnen wie jetzt durch schulische Auslese niedrige oder höhere Lebenschancen zuzuteilen, für die sie sich dann auch noch selbst verantwortlich fühlen, was den Zurückgewiesenen die ursprünglich bei allen Menschen vorhandene Freude am Lernen gründlich austreibt, oft für ihr ganzes Leben.

Wie viel Wut und Selbsthass die Zurückweisung durch unser Schulsystem bei einzelnen Menschen bewirken kann, weiß ich aus meiner Arbeit mit Schulversagern. Sehr viele Menschen tragen ihr Leben lang Ressentiments gegen alles, was mit Bildung zu tun hat, mit sich herum. Dass Amokläufe in Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen stattfanden und dass es oft schulisch Gescheiterte sind, die sich terroristischen Gruppen anschließen, ist ebenfalls ein Hinweis darauf, dass die Schule als Zuteilungssystem für Lebenschancen vieles von dem wieder zerstört, was sie durch die dort vermittelten Inhalte an Bildung vermitteln möchte. Die Schule berühre uns tief innerlich, schreibt Illich. Sie halte die Menschen ihr ganzes Leben lang fest oder sie sorge dafür, dass sie in eine andere Institution hineinpassen. Entschulung sei deshalb die Grundvoraussetzung jeder Bewegung für die Befreiung des Menschen. Und: „Jeder von uns ist persönlich für seine Entschulung verantwortlich, und nur wir selbst haben die Macht, es zu tun“ (Entschulung, S. 58 u. 59).

Vieles ist in den letzten 45 Jahren seit der Veröffentlichung der hier besprochenen Bücher an unserem Schulsystem verändert worden, um die Auslesefunktion etwas abzumildern, indem sie auf einen späteren Zeitpunkt im Leben der Lernenden verlegt wird, vieles ist auch geschehen, um die Schulen etwas mehr der Welt gegenüber zu öffnen. Besonders Privatschulen und Schulversuche haben Möglichkeiten der Öffnung erprobt. Ihre Erfahrungen können wir nutzen, wenn wir eine grundlegende gesellschaftliche Entschulung in Illichs Sinn anstreben. Auf jeden Fall sollten wir unsere Kräfte nicht mehr in den seit Jahrzehnten gleichen bildungspolitischen Debatten und Reformen zu etwas mehr oder weniger an Auslese oder Öffnung verausgaben, die auch zur Zeit wieder von populistischen Bewegungen genutzt werden, sondern endlich einen Schritt weiter gehen in Richtung auf ein Bildungssystem, das statt an selbstunsicheren Konsumenten wirklich an demokratischen Staatsbürgern interessiert ist.

Schulen können nur selten Orte der Bildung sein

Wie im letzten Beitrag angekündigt, gehe ich nun auf Ivan Illichs Bildungsverständnis ein und auf die Argumente für seine Überzeugung, dass Schulen nur in seltenen Glücksfällen dafür geeignet sind, Menschen Bildung zu ermöglichen. Im nächsten Beitrag werde ich mich dann mit seinen Vorschlägen auseinandersetzen, wie mehr Menschen auf andere Weise als durch Beschulung zu mehr Bildung kommen könnten.

Das Verlangen nach Bildung sei heute dem Zwang zur Schulung gewichen. Die intensive Förderung des Schulwesens führe zu einer so weitgehenden Identifizierung von Schulbesuch und Bildung, dass die beiden Begriffe im täglichen Sprachgebrauch auswechselbar würden, schreibt Illich in „Schulen helfen nicht“ (S. 13 u. S. 129/130). Die Folge ist, dass sich kaum noch jemand Gedanken darüber machen muss, was Bildung eigentlich ist, denn wir bekommen sie ja quasi „im Paket“ geliefert und müssen sie nur noch konsumieren. Doch Bildung entsteht nur dort, wo ich mich selbst bilde, es ist ein aktiver Prozess der Auseinandersetzung mit dem, was mir begegnet oder angeboten wird.

Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, dann gab es in all den Jahren kaum Momente, in denen ich mich wirklich für das interessiert habe, was mir dort angeboten wurde. Ich ließ das Ganze halt wie alle anderen auch über mich ergehen und saß meine Zeit ab. Es gab ein paar engagiertere Lehrpersonen, insgesamt wenige, bei denen war der Unterricht wenigstens nicht ganz so langweilig. Wenn ich sie mochte, tat es mir leid, dass all ihr Engagement nicht mehr innere Anteilnahme bei mir wecken konnte. Manchmal heuchelte ich sogar Interesse, um ihnen eine Freude zu machen.

Bildungsanregungen bekam ich überwiegend außerhalb der Schule: Durch eine alte Psychagogin, die ich von meinem 16. Lebensjahr an bis Mitte zwanzig immer wieder besuchte, durch mein Engagement in sozialen und politischen Gruppen, durch selbst organisierte Lerngruppen während meines zweiten und dritten Studienabschnitts, durch meine Unterrichtsvorbereitungen als Lehrerin, durch selbst organisierte Fortbildungen im Rahmen meines Engagements für eine demokratische Umgestaltung von Schule (Freinet-Pädagogik), durch Begegnungen auf Reisen und schließlich durch mein autodidaktisches Philosophiestudium und Recherchen für meine Bücher und Übersetzungen.

Bildung geschieht nur dort, wo ich Fragen habe. In der Schule werden ständig Fragen beantwortet, die die Lernenden noch gar nicht gestellt haben oder überhaupt nicht stellen konnten, da ihnen dafür die Voraussetzungen fehlten, vor allem die entsprechenden Lebenserfahrungen in konkreten Kontexten. Schließlich werden sie ja jahrelang viele Stunden pro Tag von der wirklichen Welt ferngehalten. Außerdem bewirkt der Anpassungsprozess in den ersten Schuljahren, dass ihnen das Fragen abgewöhnt wird, weil sie schnell verstehen, dass ihre Fragen hier fehl am Platz sind. Solche Fragen halten sich nämlich selten an das, was gerade „dran“ ist.

Natürlich werden in der Schule auch unverzichtbare Fertigkeiten vermittelt: Lesen, Schreiben, Rechnen, Einführung in Fremdsprachen und das Auswerten von Texten zum Beispiel. Doch das kann in wesentlich kürzerer Zeit geschehen, wenn die Lernenden es zu ihrer eigenen Sache machen. Diese Erfahrung habe ich als Lerntherapeutin oft gemacht, wenn ich Jugendlichen oder Erwachsenen in wenigen Stunden Rechtschreibung beibrachte oder ihnen bei einer Prüfungsvorbereitung in einer Fremdsprache half. Fertigkeiten zu lehren ist jedoch etwas ganz anderes, als zur Bildung beizutragen. Illich schreibt: „Wer eine Fertigkeit lehrt, stützt sich auf die Anordnung bestimmter Umstände, die es dem Lernenden ermöglichen, festliegende Antworten zu finden. Wer zur Bildung führt oder sie lehrt, ist darum bemüht, passende Partner zusammenzuführen, damit Lernen stattfinden kann. Er führt einzelne Menschen zusammen, die von ihren eigenen ungelösten Fragen ausgehen.“ Und: „Schöpferisches, forschendes Lernen macht es nötig, Gleichgesinnte zu finden, die in diesem Augenblick von denselben Begriffen oder Problemen bedrängt werden“ (Entschulung der Gesellschaft, S. 32 und 33).

Illich hält es für eine Illusion, dass das meiste Wissen aus Unterweisung stamme. „Unterweisung kann unter bestimmten Umständen Wissen vermitteln. Die meisten Menschen erwerben jedoch den größten Teil ihrer Erkenntnis, ihres Wissens und ihrer Fertigkeiten außerhalb der Schule. Schule wird während eines ständig wachsenden Teils des Lebens zum Gefängnis“ (Schulen helfen nicht, S. 152). Das meiste Lernen sei nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es sei vielmehr das Ergebnis unbehinderter Teilnahme in sinnvoller Umgebung. „Die meisten Menschen lernen am besten, wenn sie ‚dabei sind’ (Entschulung der Gesellschaft, S. 51).“ Doch von den „sinnvollen Umgebungen“ würden Kinder und Jugendliche ferngehalten: „Wir wissen nichts mit denen anzufangen, die wir jetzt als ‚Kinder’ oder ‚Schüler’ bezeichnen und in die Schule schicken“ (Schulen helfen nicht, S. 32).

Dort würden junge Menschen vorwegentfremdet von Schulen, „die sie isolieren, gleichzeitig aber vorgeben, sie seien Erzeuger und Verbraucher ihres Wissens, das als Ware verstanden wird, die in der Schule auf den Markt gebracht wird. Die Schule macht aus der Entfremdung eine Vorbereitung aufs Leben und beraubt damit die Erziehung der Wirklichkeit und die Arbeit ihres schöpferischen Charakters. Indem die Schule die Notwendigkeit lehrt, belehrt zu werden, bereitet sie auf die entfremdende Institutionalisierung des Lebens vor. Haben die Menschen diese Lektion einmal gelernt, so verlieren sie jeden Anreiz, in Unabhängigkeit heranzuwachsen; sie finden Bezüglichkeit nicht länger reizvoll und verschließen sich den Überraschungen, die das Leben bietet, wenn es nicht durch institutionelle Definition vorausbestimmt wird“ (Entschulung, S. 58).

Doch wahre Bildung mache uns gerade für Überraschungen bereit. Bildung bedeute „die Ausbildung eines unabhängigen Lebensgefühls und eine Bezüglichkeit, die Hand in Hand damit geht, dass die im Zusammenleben der Menschen aufbewahrten Erinnerungen zugänglich und nutzbar gemacht werden“. Orte der Bildung seien Stätten der Begegnung, an denen „andere mich mit ihrer Freiheit überraschen und mir die eigene Freiheit bewusst machen“ (Schulen helfen nicht, S. 21).

Ich kann mich nur an ganz wenige Situationen erinnern, in denen ich mich während meiner Schulzeit mit Mitlernenden über inhaltliche Themen ausgetauscht habe. Trotzdem beherrschte das Thema „Schule“ viele unserer Gespräche. Wenn ich heute jungen Menschen zuhöre, beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln, dann sind auch sie oft mit Schule beschäftigt. Doch es geht nie um Lerninhalte, sondern fast immer um das Bewertungssystem: um ungerechte Beurteilungen, schwierige oder einfache Tests, um Lehrende, bei denen man gute oder eher schlechte Noten bekommt. Ein weiteres beliebtes Thema sind die kleinen Siege in den Machtkämpfen mit den Lehrenden, die ja immer auch Bewacher und Behinderer persönlicher Bewegungs- und Freiheitswünsche sein müssen, eine Rolle, die mir meinen Beruf als Lehrerin trotz aller Liebe zu den jungen Menschen und manchen Unterrichtsthemen immer auch zu etwas Beängstigendem und Verhasstem machte.

Schon als Jugendliche hatte ich das Gefühl, dass die Schule mir Bildungsgüter, die mir am Herzen lagen, kaputt machte, beispielsweise wenn wir Bücher durchnahmen, die ich schon gelesen hatte und die mir etwas bedeuteten. Das Schulwesen habe die Bildung entwürdigt, schreibt Illich. Denn zum einen kann man sie dort nicht bekommen, ohne sich gleichzeitig „mit fürsorglicher Aufsicht, unfruchtbarem Wettbewerb und Indoktrination“ abzufinden (Schulen helfen nicht, S. 20). „Wir haben uns angewöhnt, unser Bedürfnis nach mehr Lernen mit der Forderung nach immer längerem Einsperren in Klassenzimmern zu identifizieren. Anders ausgedrückt: wir haben die Bildung zusammen mit aufsichtlicher Fürsorge, Berechtigungswesen und dem Wahlrecht verpackt und das alles eingewickelt in die Belehrung über christliche, liberale oder kommunistische Tugenden“ (Schulen helfen nicht, S. 125).

Zum anderen führt schulisches Lernen uns weg von qualitativem hin zu quantitativem Denken: „Die institutionalisierten Werte, welche die Schule einimpft, sind quantitativer Art. Die Schule führt junge Menschen in eine Welt ein, in der alles messbar ist, auch ihre Phantasie und sogar der Mensch selber. Nun ist aber persönliches Wachstum nicht eine messbare Größe. Es ist ein Heranwachsen zu diszipliniertem Nonkonformismus […] Menschen, die auf das richtige Maß heruntergeschult worden sind, lassen sich ungemessene Erlebnisse entgleiten. Für sie wird, was sich nicht messen lässt, zweitrangig und bedrohlich. Sie brauchen ihrer schöpferischen Kraft nicht mehr beraubt werden. Durch Unterweisung haben sie verlernt, das Ihrige zu tun oder sie selber zu sein. Sie schätzen nur noch, was gemacht worden ist oder gemacht werden könnte“ (Entschulung, S. 52). Ein Wachstum jedoch, das man als endlosen Konsum und immerwährenden Fortschritt begreife, könne niemals zur Reife führen.

„Auswandern!“

Schon vor längerer Zeit hörte ich mal im Radio ein Interview mit einem Wirtschaftsforscher, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe. Er hatte untersucht, was die wichtigsten Prädiktoren für wirtschaftlichen Erfolg im Leben sind. Herausgefunden hatte er – und das ist ja keine große Überraschung –, dass dabei die Situation, in die man hineingeboren wird, also vor allem die wirtschaftliche Situation des jeweiligen Landes, den Ausschlag gibt. Das heißt, dass eine Person, auch wenn sie noch so ehrgeizig, strebsam, fleißig, gut organisiert und auch risikofreudig ist, sogar wenn sie sich eine sehr gute Ausbildung und die besten Abschlüsse erarbeiten konnte (hier kommt natürlich auch noch der soziale Hintergrund der Herkunftsfamilie ins Spiel), kaum eine Chance hat, es zu etwas zu bringen, wenn sie in einem „armen Land“ lebt. Am Ende wurde der Forscher gefragt, was er solchen Menschen denn empfehlen würde, und er antwortete: „Auswandern“.

Das fiel mir wieder ein im Zusammenhang mit der Tatsache, dass ja nicht nur Menschen, die vor Terror und Krieg flüchten oder vor einem gnadenlosen Militärdienst, nach Europa und besonders nach Deutschland kommen, sondern auch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“, die durch zumindest teilweise erfundene Verfolgungsgeschichten versuchen, als Asylanten anerkannt zu werden, weil es ja für die meisten keine andere legale Möglichkeit gibt, nach Europa bzw. nach Deutschland einzuwandern.

Gleichzeitig erinnerte ich mich an etwas, das ich einmal bei Ivan Illich gelesen hatte, in seinen Büchern „Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems“ und „Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft“, die beide 1972 veröffentlicht wurden. In diesen Büchern vergleicht der ehemalige Jesuit den weltweiten Glauben daran, dass Schulen etwas Gutes sind und dass es Menschen und Gesellschaften umso besser gehen wird, je mehr Beschulung sie sich leisten können, mit dem einstigen Glauben an eine Kirche, die ebenso mit Religion identifiziert wurde wie heute die Schule mit Bildung. Illich war überzeugt, dass das Schulwesen kaum Bildung ermöglicht, dass es wirklicher Bildung eher im Weg steht, dass die Schule bildungs- und gesellschaftsfeindlich geworden ist. In meinem nächsten Post werde ich darauf eingehen, wie er diese Haltung begründet und was er als Alternative vorschlägt.

Die Haupteffekte von Beschulung seien zum einen die Zurichtung für ein Leben als Konsumierende, auch als Konsumierende weiterer Beschulung oder anderer „Pakete“ von Waren und Dienstleistungen, denn das Organisieren von Verbrauchern sei zum wichtigsten Wachstumssektor der Wirtschaft geworden. Heute sei der größte Teil menschlicher Arbeitskraft damit beschäftigt, Nachfragen zu erzeugen, die durch eine kapitalintensive Industrie befriedigt werden können. Das meiste davon geschehe in der Schule. Zudem sei das Schulwesen selbst nicht nur die neue Weltreligion, sondern auch der am schnellsten wachsende Arbeitsmarkt der Welt, was für Entwicklungsländer eine ungeheure Belastung darstelle. (Illich hat außer in New York, wo er mit eingewanderten Puertoricanern arbeitete, auch in Puerto Rico und in Mexiko gelebt). Diese weltweite Anpassung an ein Leben als Verbraucher habe äußerst negative Auswirkungen auf unsere Erde: „Je mehr der Bürger auf den Verbrauch von abgepackten Waren und Dienstleistungen gedrillt wird, um so weniger scheint er imstande zu sein, seine Umwelt zu gestalten. Seine Kraft und sein Geld werden für die Herstellung immer neuer Modelle seiner Standardwaren aufgezehrt, und die Welt wird zum Abfallprodukt seiner Verbrauchergewohnheiten“ (Schulen helfen nicht, S. 126). Dabei schrumpfe die Phantasie, so dass sie sich eine Befriedigung der Bedürfnisse anders als durch die heute in den vielbewunderten Gesellschaften angebotenen „Packungen“ nicht mehr vorstellen könne.

Der zweite Haupteffekt von Schule besteht für Illich darin, dass sie die Grundlage für die Abstufung der gesellschaftlichen Rangfolge herstellt, die von den Einzelnen als selbst verschuldet erlebt wird. Schule bringt also politisch annehmbare Formen einer Diskriminierung hervor, welche die Ursache für geringeren Erfolg im Leben auf eigenes Versagen zurückführt. Allenfalls können noch „ungerechte Lehrer“ mit dafür verantwortlich gemacht werden. So liefert Schule denen, die sie besuchen und dann durchfallen oder abbrechen, eine Erklärung für ihre Unterlegenheit. „Dass durch Schulbildung Unterlegenheit erzeugt wird, zeigt sich in armen Ländern deutlicher und vielleicht schmerzhafter als in reichen Ländern“ (S. 151), denn an das Privileg von längerem Schulbesuch und vielleicht sogar einem Studium knüpfen sich besonders hohe Erwartungen für das spätere Leben. An die Stelle der erblichen Unterlegenheit in einer Ständegesellschaft tritt nun zunehmend die Unterlegenheit des Schulversagers, den man für sein Scheitern persönlich verantwortlich macht. „Dank ihrer Struktur als rituelles Spiel eines stufenweisen Aufrückens leistet die Schule wirksame Dienste als Schöpfer und Erhalter eines sozialen Mythos. Die Einführung in dieses rituelle Spiel ist viel wichtiger als die Frage, was oder wie etwas gelehrt wird. Das Spiel an sich schult, wirkt ansteckend und wird zur Gewohnheit. Eine ganze Gesellschaft wird in den Mythos des immerwährenden Verbrauchs von Dienstleistungen eingeweiht, und zwar in dem Umfang, in dem die Teilnahme an dem endlosen Ritual allenthalben Verpflichtung und Zwang zugleich wird“ (S. 55).

Selbst diejenigen, die bestenfalls zwei Jahre in der Schule zubringen – das waren 1970 in Lateinamerika, Asien und Afrika noch die ganz überwiegende Mehrheit ­–, „entwickeln Schuldgefühle, weil sie zu wenig Schulbildung verbrauchen. Das Kind lernt nur, dass diejenigen, welche mehr Schulbildung als es selber haben, einen höheren Rang und unbestrittene Autorität besitzen“ (S. 56).

Als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen und später als sozialpädagogische Familienhelferin erlebte ich gerade bei eingewanderten Familien die Enttäuschung und teilweise auch die Wut über dieses Betrogensein durch jenen sozialen Mythos sehr genau mit, wobei sich die Wut oft auch gegen die eigenen Kinder richtete. Diese Eltern waren vor allem auch deshalb nach Deutschland gekommen, weil sie sich für ihre Kinder einen Aufstieg erhofft hatten, der dadurch geschehen sollte, dass diese hier viel mehr Schulbildung bekommen konnten, als es den Eltern im Heimatland möglich gewesen war. Und nun landeten sie in den „schlechtesten“ Schulen und waren auch dort noch anderen unterlegen.

Auch in den Heimatländern selbst werden durch den Mythos, durch mehr Schul- und Studienjahre gesellschaftlich aufsteigen zu können, große Probleme verursacht. Denn es gibt dort ja gar nicht die Arbeitsplätze für eine höhere Zahl an länger ausgebildeten jungen Menschen, die ihr Studium als Investition mit höchstmöglicher Rendite betrachten, die also nach einer solchen Ausbildung nicht mehr zu einfachen und schlecht bezahlten Tätigkeiten bereit sind. So bleibt vielen nur noch die Hoffnung, durch eine Flucht nach Europa ihr Ziel, den sozialen Aufstieg, doch noch zu erreichen. Die Chancen dafür stehen nicht besonders gut.

Zum Flüchtlingsproblem und Flüchtlingselend tragen also nicht nur die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und die Waffenexporte der Industrieländer bei, sondern auch das, was alle – ob kapitalistisch, sozialistisch, christlich, muslimisch oder was auch immer – für das Beste halten, das für „Entwicklung“ getan werden kann: die Ermöglichung von immer mehr Schul“bildung“.

„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“

Ein 91-jähriger Mann, mit dem ich mich manchmal unterhalte, findet es nicht gut, dass so viele junge Männer als Flüchtlinge zu uns kommen, anstatt in ihrem Land „für Ordnung zu sorgen“. Ihm kann ich eine solche Meinung zugestehen. Denn er musste als junger Mann jahrelang im Krieg kämpfen und wurde schwer verwundet. Sein ganzes Leben lang litt er unter den Folgen, unter anderem blieb sein Gesicht verunstaltet. Dass er diesem Aspekt seines Lebens auch im Nachhinein noch einen Sinn geben möchte, kann ich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Doch es gibt auch jüngere Menschen, die in ihren Hetzkommentaren gegen Flüchtlinge schreiben, diese sollten lieber in ihrem Land kämpfen, „als hier in den Cafés herumzusitzen“. Sogar in einem Artikel auf einem feministischen Portal wurde kritisiert, dass die jungen Männer allein zu uns kommen und ihre Frauen und Kinder ohne Schutz im Kriegsgebiet zurücklassen würden. Dass Männer durch ihre Kriegshandlungen Frauen und Kinder beschützen würden, war immer schon die größte Lüge in diesem Zusammenhang. Denn sie sind ja gerade nicht zu Hause bei ihren Frauen und Kindern, während dort die Bomben fallen, sondern irgendwo an der Front oder gar als Besatzer in Ländern, in denen sie nichts zu suchen haben. Als es noch Gewissensprüfungen für Wehrdienstverweigerer gab – einige meiner Klassenkameraden bereiteten sich in der Zeit vor unserem Abitur darauf vor – wurde immer wieder über die beliebtesten Fangfragen gesprochen, beispielsweise folgende: „Was tust du, wenn ein Verbrecher deine Freundin bedroht, und du hast ein Gewehr?“

Inzwischen wurden bei uns nicht nur diese Gewissensprüfungen abgeschafft, sondern sogar der ganze Wehrdienstzwang. Schon seit fast fünf Jahren ist die Wehrpflicht „ausgesetzt“, wobei diese Formulierung wahrscheinlich dazu beitrug, dass wir damals keine Freudenfeste feierten, keine Freudensprünge machten. Ich wunderte mich jedenfalls, wie stillschweigend eine so großartige Veränderung zum Besseren über die Bühne ging.

Als Jugendliche sang ich mit Hingabe Anti-Kriegslieder wie das von Kurt Tucholsky: „Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen, hast dich zwanzig Jahr’ mit ihm gequält, … bis sie ihn dir weggenommen haben, für den Graben“. Oder „Le déserteur“ von Boris Vian, in dem er darüber schreibt, dass er seinen Einberufungsbefehl bekommen hat, um nach Algerien in den Krieg zu ziehen, und dass er nicht bereit ist, dorthin zu gehen, „um arme Leute zu töten“. Stattdessen wird er in Frankreich untertauchen und von Ort zu Ort fliehen, gejagt von den Gendarmen. Während des Vietnamkriegs waren die US-amerikanischen Deserteure, die nach Kanada flohen oder ins Gefängnis kamen, weil sie nicht in diesem schmutzigen Krieg kämpfen wollten, dann so etwas wie Helden für mich. Und in der Zeit der großen Friedensdemonstrationen war der Titel dieses Beitrags, ein aus dem Zusammenhang gerissenes (und damit verfälschtes) Brecht-Zitat, für viele ein beliebter Slogan, an dessen Verwirklichung aber kaum jemand so richtig glauben konnte.

Und nun nehmen junge Männer aus Ländern, in denen Männlichkeit, Wehrhaftigkeit und Ehre immer noch eng zusammengehören, die Gefahren und Strapazen einer Flucht auf sich, um nicht in regulären oder illegalen Armeen gegen ihre Landsleute oder einfach gegen andere Menschen kämpfen zu müssen. Wenn das kein Grund zur Freude ist!

Wenn Müll aufsammeln nicht mehr peinlich ist

Als ich noch Lehrerin war, bekam ich auf die Bitte, im Klassenzimmer herumliegenden Müll aufzuheben und in den Papierkorb zu werfen, oft die Antwort: „Das ist nicht von mir“. Und das hieß: „Den Müll von jemand anderem hebe ich nicht auf.“ Es gab auch Kinder, mehr Jungen als Mädchen, die diesen Satz sogar dann sagten, wenn sie genau wussten, dass der Abfall von ihnen selbst stammte, weil sie vorher beim Weitwurf in den Papierkorb daneben gezielt oder die Sachen einfach unter ihrem Tisch fallengelassen hatten. Je nach meiner Stimmung bestand ich darauf, dass sie den Müll trotzdem richtig entsorgten, oder ich hob ihn selbst auf und sagte dazu: „Von mir ist er auch nicht“. Dabei war mir allerdings bewusst, dass ich damit höchstens für manche Mädchen Vorbild sein konnte, denn es war für die Kinder ja normal, dass eine Frau – die Mutter zuhause oder eine Putzfrau – meistens mit großer Selbstverständlichkeit den Dreck anderer wegmachte. Hätten männliche Kollegen ähnlich reagiert wie ich, wäre das sicher wirkungsvoller gewesen, doch diese kümmerten sich damals eher selten um Schönheit und Sauberkeit der Klassenzimmer und Schulhöfe, allenfalls wurde Müllsammeln von ihnen mal als Strafmaßnahme eingesetzt. Den Müll anderer wegzuräumen oder sich überhaupt mit Müll abzugeben galt – besonders für die Jungen ­– als ehrenrührig, es war unter ihrer Würde, sich zu einer so niedrigen Tätigkeit herablassen zu müssen.

Schon als Kind hat es mich geschmerzt, wenn eine schöne Umgebung durch achtloses Wegwerfen von Müll hässlich gemacht wurde. Bis zu den Umweltschutzbewegungen in den 1970-er und 1980-er Jahren war es ja noch ganz normal, dass jeder Ort einen bestimmten Abhang hatte, an dem der gesamte örtliche Hausmüll abgeladen wurde, und mit derselben Selbstverständlichkeit leiteten Industrieanlagen ihre Abwässer in die Flüsse. Da sind wir schon einen weiten Weg gegangen bis zur heutigen Müllentsorgung und Mülltrennung, die allerdings in anderen europäischen Ländern gerade erst in ihren Anfängen steht, was mich angesichts der Regulierungswut europäischer Institutionen in anderen Bereichen schon etwas wundert.

Lange blieb ich dabei stehen, mich über einen vermüllten öffentlichen Raum oder vermüllte Landschaft nur aufzuregen. Als ich vor etwa 25 Jahren eine betagte Nachbarin von mir dabei beobachtete, wie sie auf ihrem Weg in die Stadt mit dem Fahrrad anhielt, um den Müll am Straßenrand aufzusammeln, wirkte das auf mich wie eine Verrücktheit, und es war mir irgendwie peinlich. Ich hätte mir damals allenfalls vorstellen können, bei einer von der Gemeinde organisierten „Bachputzete“ mitzumachen. In der Öffentlichkeit den Müll anderer Leute aufzuheben war wohl auch für mich unter meiner Würde, es sei denn, es geschah im Rahmen einer organisierten Aktion.

Bei meinem letzten Urlaub auf einer landschaftlich sehr schönen Insel hörte ich mich wieder einmal darüber klagen, wie viel Plastikmüll überall herumlag, vor allem auch am Strand, wo wir doch inzwischen wissen, welche Folgen es hat, wenn das Meer voller Plastikmüll ist. Und da konnte ich meine Klagen und mein Schmerzlich-Berührt-Sein plötzlich nicht mehr ertragen. Ich fing damit an ­– zunächst noch etwas verschämt – bei jedem Strandspaziergang Plastikmüll einzusammeln. Natürlich war das „ein Tropfen auf den heißen Stein“, aber mir ging es damit besser als mit meinem vorheriges Schimpfen und Klagen.

Vor ein paar Tagen habe ich mich sehr über einen Artikel in meiner Zeitung gefreut. Da wurde von einem, dem Foto nach, etwa vierzigjährigen Mann berichtet, der in seiner Freizeit bis zu drei Stunden täglich Müll aufsammelt, in den Straßen seines jeweiligen Wohnortes. Das sei doch besser, als vor dem Fernseher oder dem Computer zu sitzen, meint er dazu. Zufällig traf er beim Sammeln einmal den Bürgermeister seines neuen Wohnortes, der ziemlich erstaunt auf seine Tätigkeit reagierte. Der Müllsammler „fühlte sich peinlich ertappt“ und begann sich zu rechtfertigen. Doch der Bürgermeister war natürlich begeistert und sorgte dafür, dass diese Aktion samt der von der Gemeinde inzwischen gespendeten Müllsammelausstattung – Warnweste, Plastikhandschuhe, Zange – publik gemacht wurde.

Frauensonntag

Vorletzten Sonntag wurde in meiner Gemeinde ein Gottesdienst zum „Frauensonntag“ gefeiert. Da mir diese Einrichtung noch nie begegnet ist, informierte ich mich darüber im Internet. Auf der Seite der Evangelischen Kirche in Baden erfuhr ich, der Frauensonntag blicke hier auf eine lange Tradition zurück, er sei schon 1916 in einem Sitzungsprotokoll erwähnt und 1918 erstmals gefeiert worden. Auch wenn in den letzten zwanzig Jahren in anderen Landeskirchen ebenfalls Frauensonntage eingeführt worden seien, so dürften wir „in Baden auf unsere lange Geschichte mit Recht ein bisschen stolz sein“. Das Besondere am Frauensonntag sei, „dass die biblischen Texte bewusst aus und in der Perspektive von Frauen gelesen werden, dass wir uns als gottesdienstliche Gemeinde einmal bewusst auf (diesen) Blickwinkel einlassen“. Mir kommt das so vor, als seien Frauen eine Minderheit, an die auch mal gedacht werden sollte.

Während des Gottesdienstes zum Thema „Marthas Christusbekenntnis“, der von zwei Frauen zusammen mit der Pfarrerin auf der Grundlage einer Arbeitshilfe der Landeskirche sehr schön vorbereitet worden war, dachte ich, dass ich mich Anfang der 1980er Jahre vielleicht über einen solchen Gottesdienst gefreut hätte ­– immerhin stand ja, abgesehen von Jesus, eine biblische Frauengestalt im Mittelpunkt, ein Lied in einer „Frauenfassung“ wurde gesungen und die Texte wurden aus der „Bibel in gerechter Sprache“ vorgelesen.

Nun aber war ich nur zornig über die Unverschämtheit, Frauen mit einem Frauensonntag abspeisen zu wollen, an dem einmal im Jahr eine „Frauenfassung“ gesungen wird, während das übrige Jahr über keinerlei Bereitschaft besteht, etwas an einer liturgischen Sprache zu ändern, die auch heute noch so tut, als sei Gott männlich. „Wenn Gott männlich ist, dann ist das Männliche Gott“, erkannte Mary Daly 1973, und diese für uns alle schädliche Botschaft wird leider bis heute in jedem Gottesdienst verstärkt. Lieder und liturgische Texte mit weiblichen Gottesbildern und Pronomen sind nämlich keine „Frauenfassung“, sondern es sind Texte, die gleichberechtigt neben allen anderen Texten stehen oder sie sogar eine Zeitlang ersetzen sollten, weil sie diese falsche, da einseitig festgelegte Gottesvorstellung zumindest etwas aufweichen könnten.

Natürlich würde mir jede theologisch gebildete Person gleich zustimmen, dass Gott nicht männlich ist. Doch offensichtlich fehlt in Kirchenkreisen der Wille, diese Erkenntnis in liturgische Sprache zu übersetzen, was eigentlich sehr einfach wäre. Ich verstehe nicht, warum noch nicht einmal die inzwischen doch recht zahlreichen Pfarrerinnen dies zu ihrer Sache machen. Frauensonntage und die „Frauenfassung“ eines Liedes, die noch nicht einmal im Gesangbuch steht, helfen da jedenfalls nicht weiter.

Zahlen und ihr Gift

Bei einem Denkwochenende sprachen wir über unseren Umgang mit Geld. Als Beispiel für ihre Schwierigkeiten, sich etwas zu gönnen, erzählte eine Frau von ihrem Einkauf in unserer Mittagspause. In einem Drogeriemarkt hatte sie auf der Suche nach etwas anderem eine hübsche, bunte Pinzette entdeckt, die genau solche Greifarme hatte, wie sie sie brauchte. Voller Freude legte sie sie in ihren Einkaufskorb. Doch als sie den Preis sah – etwa doppelt so hoch wie die billigste Pinzette im Angebot, also vielleicht 3 € statt 1,50 – war ihre Freude weg. Stattdessen überlegte sie, ob sie die Pinzette wirklich kaufen sollte, da sie ja zuhause schon mehrere hatte. Als wir über das Erzählte nachdachten, fiel uns auf, dass das „Gift“, das die Freude kaputtgemacht hatte, die Zahl war, die den Blick weg von dem schönen Gegenstand auf andere Überlegungen richtete.

Seit etwa drei Jahren besitze ich ein E-Bike. Viel Freude hat es mir bis vor ein paar Wochen nicht gemacht. Denn um mir selbst und ökologisch noch strengeren FreundInnen gegenüber den zusätzlichen Stromverbrauch zu rechtfertigen und ja nichts von meiner Fitness einzubüßen, ließ ich den Motor meistens aus oder wählte die geringste der zwölf Unterstützungsstufen ,“ECO 1″. Für den steilen Berg vor unserem Haus gönnte ich mir nur mittlere Unterstützung statt der höchsten Stufe, die mir einst bei der Probefahrt ein steiles Tal hoch so viel Spaß gemacht hatte.

Dann rutschte mir zweimal hintereinander der Fahrradcomputer aus der Hand und fiel auf den Betonboden des Fahrradschuppens. Beim ersten Mal hatte er nur einen Riss im Display, seit dem zweiten Mal ist dort nichts mehr zu erkennen außer ein paar Schatten, wenn die niedrigste Stufe eingestellt ist. Da ein neuer Computer für ein E-Bike richtig Geld kostet, bin ich froh, dass er ansonsten weiterhin funktioniert. Ob ich noch Strom habe, kann ich an den Leuchtbalken am Akku erkennen. Ob der Motor an ist, kann ich hören. Und welche Unterstützung mir gerade gut tut, kann ich spüren. Dass ich jetzt freier bin, mir diese zu gönnen, muss irgendwie damit zusammenhängen, dass ich jetzt nicht mehr von den Zahlen auf dem Display terrorisiert werde. Sie verstärkten meinen Sparwahn, brachten mich zum Vergleichen und Mich-Verbessern-Wollen. Der Bonus war, dass ich damit angeben konnte, wie viele Kilometer ich mit einer Akku-Ladung geschafft hatte.

Erst jetzt merke ich, dass ich vorher ständig auf die Zahlen auf dem Display gestarrt habe, anstatt in der Gegend herumzuschauen. Vor allem ließ ich mich von der Angabe unter Druck setzen, wie viele Kilometer ich noch mit meiner Akku-Ladung fahren kann, wenn ich mit der jeweiligen Unterstützung weiterfahre. Diese Zahl war permanent geringer als die, die ich in Wirklichkeit schaffte, was mich vor allem in der ersten Zeit sehr irritierte, aber dass sie abnahm, wenn der Motor an war, dass ich also Strom verbrauchte, ließ mich den Motor immer wieder schnell ausschalten und hielt mich auch davon ab, stärkere Unterstützungsstufen auch nur in Betracht zu ziehen.

Vor dem E-Bike hatte ich meinen Fahrradcomputer nur bei Radtouren eingesetzt. Auch damals schon waren die ständige Geschwindigkeitsangabe vor meiner Nase, die Angabe der Durchschnittsgeschwindigkeit, die Tageskilometer und die Gesamtkilometer der Tour nicht ohne Einfluss auf mich, denn sie brachten mich zum Vergleichen und weckten den Wunsch, mich zu verbessern oder auf jeden Fall nicht zu verschlechtern. Wenn ich von meiner Radtour erzählte, war oft die erste Frage der anderen, wie weit ich denn pro Tag und insgesamt gefahren sei, da wollte ich mit der Zahl der Kilometer doch auch ein bisschen angeben können. Schade fand ich es ja schon, dass ich nach meiner letzten Radtour darüber so gar nichts sagen konnte. Doch dafür hat mir das Radfahren selbst viel mehr Freude gemacht.

Kulturverlust im öffentlichen Raum 3: Sich an Regeln halten

Seit Wochen schwanke ich hin und her, ob ich den angekündigten dritten Teil meiner Serie über Kulturverlust noch schreiben und veröffentlichen soll. Es war zwar nur ein einziger Kommentar auf Facebook, der meinen Text über den Verlust von Rücksichtnahme als „spießig“ bezeichnete, mit der Begründung, ich würde pauschalisierend und ausschließlich negativ über junge Leute schreiben. Auch wenn das nicht stimmt, erwischte mich dieses Urteil an dem Punkt, wo ich selbst unsicher bin, ob es sinnvoll ist, Beispiele für diese Art von Kulturverlust zusammenzutragen und vor den von mir befürchteten gesellschaftlich-politischen Folgen zu warnen. Sollte ich mich nicht lieber einfach so gut wie möglich anpassen an die Veränderungen, in dem Bewusstsein, dass es ja die jüngeren Generationen sind, die in dieser Welt weiterleben müssen und die ja offensichtlich nicht unter dem leiden, was ich hier als „Kulturverlust“ bezeichne, sondern ganz gut damit zurechtkommen?

Da ich aber weiterhin fast täglich etwas in der Zeitung lese, was meine Befürchtungen bestätigt, werde ich meine Serie mit diesem letzten Blogpost nun doch noch abschließen.

Heute las ich von einem Autounfall, der deshalb passierte, weil ein Fußgänger bei Rot über eine Ampel ging, worauf dem Auto, das deshalb bremsen musste, ein zweites hinten auffuhr. Der Fußgänger kümmerte sich jedoch nicht um den von ihm verursachten Unfall, er suchte schnell das Weite. Dies ist ein eher harmloses Beispiel für Folgen des Sich-nicht-an-Regeln-Haltens, es gab ja „nur“ Sachschaden, – Pech für die beiden Autofahrer. In einem anderen Zeitungsausschnitt wird berichtet, dass zwei Radler, die das Rotlicht missachteten, mit einem Auto zusammenstießen, einer verletzte sich dabei schwer. Auf jeden Fall nehmen Unfälle zu, und es wird anstrengender, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, weil es immer weniger Selbstverständliches gibt, auf das man sich verlassen kann.

Schwerwiegender finde ich es, wenn die Ohnmacht, die diejenigen empfinden, die darunter leiden, dass sich immer weniger Menschen noch an Regeln halten, dazu führen, dass sie zu gewalttätigen Maßnahmen greifen, und wenn die Stimmung im öffentlichen Raum dadurch immer unfreundlicher und aggressiver wird.

Da ich eine von denen bin, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Radfahrer mittlerweile mit großer Selbstverständlichkeit Fußgängerwege für sich beanspruchen – in den Städten, aber vor allem auch in den Wäldern, wo die Wege durch die Radfahrer bei Nässe gleichzeitig auch noch zerstört werden – ohne dass irgendetwas dagegen getan wird und ohne dass sie Argumenten dagegen zugänglich sind, war ich nicht allzu sehr überrascht, als ich vor ein paar Tagen in meiner Zeitung den Artikel „Selbstjustiz im Wald“ las (Badische Zeitung, 15.6.15), in dem zusammengetragen wird, was es schon alles an Radlerfallen im Wald gibt: abgesägte Schrauben, die aus Wurzeln herausragen, umgekippte Baumstämme, gespannte Drahtseile und richtig fest zusammengezimmerte Hindernisse, die auf den Wanderwegen, aber sogar auch auf reinen Mountainbike-Abfahrtsstrecken aufgestellt werden.

Auch das Ohnmachtsgefühl gegenüber Hundehaltern, die ihre Tiere nicht bei sich behalten (können) und sich lustig machen, wenn andere Menschen ein Problem damit haben, dass plötzlich ein fremder Hund auf sie zu gerannt kommt, kann ich gut nachvollziehen, nicht jedoch das Auslegen von Giftködern, das sich gegen die Hunde richtet, die ja schließlich nichts dafür können, wenn ihre Besitzer sich nicht an Regeln halten („Hundehasser legen Giftköder aus“, Badische Zeitung, 08.06.2015).

Natürlich sind Regeln immer übertreten worden, und auch ich habe das als junge Frau mit viel Spaß getan und mich über die aufgeregt, die darüber meckerten. Was sich aber geändert hat und warum ich von „Kulturverlust“ spreche, ist die inzwischen weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber Regeln, auch bei Menschen der mittleren Generationen. Ich denke oft, ich sei die Einzige, die beim Radfahren noch eine Richtungsänderung durch ein Handzeichen anzeigt, die wenigsten Erwachsenen tun das noch, geschweige denn die Kinder und Jugendlichen, die das ja extra bei aufwendigen Fahrrad-Übungsstunden und -prüfungen gelernt haben müssten. Mehrmals habe ich Polizisten beobachtet, die nichts unternahmen, als neben ihnen Radfahrer auf dem Gehweg fuhren oder Jugendliche mitten im dichtesten Verkehr zu zweit und zu dritt auf Rädern herumturnten, wobei sie massiv den Verkehr behinderten und sich und andere gefährdeten. Umgekehrt bewirkte noch nicht einmal die Anwesenheit von Polizei, dass die betreffenden Personen sich – zumindest kurzfristig – an die Regeln erinnerten. Ich denke, dass auch die PolizistInnen keine Lust mehr haben, sich dumme Bemerkungen, möglicherweise sogar tätliche Angriffe und ein Ohnmachtsgefühl abzuholen, wenn sie nicht gerade in einer der wenigen Verkehrskontrollen die Möglichkeit haben, ein paar kleine Geldstrafen zu verhängen, die für die meisten so lächerlich sind, dass sie keinerlei Verhaltensänderung bewirken. Früher war es eine wirkungsvolle Drohung, wenn ein Nachbar bei einer lauten Party mitten in der Nacht sagte, er werde die Polizei rufen, heute löst das allenfalls noch Schulterzucken aus.

Irgendwann kam ich mir auch dumm vor, wenn ich an Fußgängerampeln wartete, weil Kinder in der Nähe waren, während sogar Eltern mit ihren Kindern bei Rot über die Ampel gingen. Neulich sagte ich einer Jugendlichen, die mit dem Rad durch eine recht enge Fußgängerpassage fahren wollte, dass sie hier nicht fahren dürfe – sie sah es ein und wollte gerade absteigen –, da ging ihre Mutter, die hinter ihr zu Fuß unterwegs war, auf mich los und beschimpfte mich. Meiner Erfahrung nach sind es eher Angehörige der mittleren Generationen, die schnell ausfallend werden, wenn andere sie (oder ihre Kinder) zum Einhalten von Regeln auffordern. Junge Leute sagen meistens freundlich „ja, ich weiß“, kümmern sich dann aber nicht um das, was ich gesagt habe.

Zwei Gedanken habe ich noch dazu, wie es zu diesem Kulturverlust kam und warum das wirklich ein Verlust ist. Der eine Gedanke wird in einem Cartoon auf den Punkt gebracht, den ich neulich bei Facebook sah: Eine Mutter wird von einem Passanten auf einem öffentlichen Platz gefragt, warum sie ihren Kindern erlaube, auf dem Rasen zu spielen, wo das doch verboten sei. Sie antwortet: „Wegen Auschwitz“. Die anti-autoritäre Bewegung, die hierzulande eher eine Laissez-faire-Bewegung war, verstand sich in vieler Hinsicht als Antwort auf das massenhafte gedankenlose Befolgen von Vorschriften unter der Nazi-Diktatur. Kinder sollten alles selbst entscheiden und sich nichts mehr vorschreiben lassen. In der Praxis der anti-autoritären Erziehung, wie sie im englischen Summerhill gelebt wurde, wandte man sich dagegen nicht gegen Regeln generell, sie sollten nur von den Kindern selbst gefunden und kontrolliert werden. Eindrucksvoll war für mich eine Untersuchung über die Veränderungen der Beziehungen in einem Kinderladen, in dem Erwachsene sich überhaupt nicht in das Geschehen zwischen den Kindern einmischten, also nicht einmal beratend und schützend. Während sich in anderen Kindergärten in der Regel eine Hierarchie zwischen den Kindern nach dem Schema Ältere Jungen – Ältere Mädchen – Kleinere Jungen – Kleinere Mädchen herausgebildet hatte, dominierten nun die ältesten und stärksten Jungen vor den kleineren Jungen, während beide zusammen die Mädchen tyrannisierten. Regeln können helfen, dass sich eben nicht nur Körperkraft und Draufgängertum durchsetzen, sondern auch andere Qualitäten. Auch die Untersuchungen von Elinor Ostrom über Selbstorganisation beim gemeinsamen Nutzen von Ressourcen zeigen, wie wichtig hier das Erarbeiten stimmiger Regeln und die Kontrolle ihrer Einhaltung war.

Der zweite Gedanke hat mit einer Erfahrung zu tun, die ich bei einem Adventskaffee mit einer Bekannten und ihrem damals etwa vierjährigen Sohn machte. Ich sollte bei einem Brettspiel mitmachen, das der Junge gerade geschenkt bekommen und schon öfter mit seiner Mutter gespielt hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich die Regeln kapiert hatte, was vor allem daran lag, dass Mutter und Sohn sich nicht daran hielten. Als ich die beiden darauf ansprach – ich hatte keine Lust, auf diese Weise weiterzuspielen – belehrte mich die Mutter, dass sie ihren Sohn noch zu klein dafür finde, sich an Regeln zu halten, und dass sie daher auf diese Weise mit ihm spiele. Ich war der Meinung, dass ein Kind, das angeblich zu klein für die Regeln eines Brettspiels ist, dann auch kein Brettspiel machen muss, es gibt so viele andere Spielmöglichkeiten. Und ähnlich wie mit dem Brettspiel ist es auch mit den vielen Fahrzeugen, mit denen Kinder auf den Gehwegen und manchmal auch auf Straßen herumfahren, was ihnen ohne Weiteres zugetraut wird, während sie für das Erlernen der dafür notwendigen Regeln angeblich noch zu klein sind. Solche Bobby-Car-Kinder fahren heute auch als Erwachsene noch so mit ihren Rädern auf den Gehwegen und Straßen herum, wie sie es als Kinder taten, und erwarten, dass die anderen Menschen auf sie aufpassen, wie die Erwachsenen das damals selbstverständlich getan haben. Wenn sie dafür kritisiert werden, erleben sie es als bösartigen Liebesentzug, als Verweigerung einer Rücksichtnahme, die ihnen selbstverständlich zuzustehen scheint – und reagieren entsprechend.