„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“

Ein 91-jähriger Mann, mit dem ich mich manchmal unterhalte, findet es nicht gut, dass so viele junge Männer als Flüchtlinge zu uns kommen, anstatt in ihrem Land „für Ordnung zu sorgen“. Ihm kann ich eine solche Meinung zugestehen. Denn er musste als junger Mann jahrelang im Krieg kämpfen und wurde schwer verwundet. Sein ganzes Leben lang litt er unter den Folgen, unter anderem blieb sein Gesicht verunstaltet. Dass er diesem Aspekt seines Lebens auch im Nachhinein noch einen Sinn geben möchte, kann ich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Doch es gibt auch jüngere Menschen, die in ihren Hetzkommentaren gegen Flüchtlinge schreiben, diese sollten lieber in ihrem Land kämpfen, „als hier in den Cafés herumzusitzen“. Sogar in einem Artikel auf einem feministischen Portal wurde kritisiert, dass die jungen Männer allein zu uns kommen und ihre Frauen und Kinder ohne Schutz im Kriegsgebiet zurücklassen würden. Dass Männer durch ihre Kriegshandlungen Frauen und Kinder beschützen würden, war immer schon die größte Lüge in diesem Zusammenhang. Denn sie sind ja gerade nicht zu Hause bei ihren Frauen und Kindern, während dort die Bomben fallen, sondern irgendwo an der Front oder gar als Besatzer in Ländern, in denen sie nichts zu suchen haben. Als es noch Gewissensprüfungen für Wehrdienstverweigerer gab – einige meiner Klassenkameraden bereiteten sich in der Zeit vor unserem Abitur darauf vor – wurde immer wieder über die beliebtesten Fangfragen gesprochen, beispielsweise folgende: „Was tust du, wenn ein Verbrecher deine Freundin bedroht, und du hast ein Gewehr?“

Inzwischen wurden bei uns nicht nur diese Gewissensprüfungen abgeschafft, sondern sogar der ganze Wehrdienstzwang. Schon seit fast fünf Jahren ist die Wehrpflicht „ausgesetzt“, wobei diese Formulierung wahrscheinlich dazu beitrug, dass wir damals keine Freudenfeste feierten, keine Freudensprünge machten. Ich wunderte mich jedenfalls, wie stillschweigend eine so großartige Veränderung zum Besseren über die Bühne ging.

Als Jugendliche sang ich mit Hingabe Anti-Kriegslieder wie das von Kurt Tucholsky: „Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen, hast dich zwanzig Jahr’ mit ihm gequält, … bis sie ihn dir weggenommen haben, für den Graben“. Oder „Le déserteur“ von Boris Vian, in dem er darüber schreibt, dass er seinen Einberufungsbefehl bekommen hat, um nach Algerien in den Krieg zu ziehen, und dass er nicht bereit ist, dorthin zu gehen, „um arme Leute zu töten“. Stattdessen wird er in Frankreich untertauchen und von Ort zu Ort fliehen, gejagt von den Gendarmen. Während des Vietnamkriegs waren die US-amerikanischen Deserteure, die nach Kanada flohen oder ins Gefängnis kamen, weil sie nicht in diesem schmutzigen Krieg kämpfen wollten, dann so etwas wie Helden für mich. Und in der Zeit der großen Friedensdemonstrationen war der Titel dieses Beitrags, ein aus dem Zusammenhang gerissenes (und damit verfälschtes) Brecht-Zitat, für viele ein beliebter Slogan, an dessen Verwirklichung aber kaum jemand so richtig glauben konnte.

Und nun nehmen junge Männer aus Ländern, in denen Männlichkeit, Wehrhaftigkeit und Ehre immer noch eng zusammengehören, die Gefahren und Strapazen einer Flucht auf sich, um nicht in regulären oder illegalen Armeen gegen ihre Landsleute oder einfach gegen andere Menschen kämpfen zu müssen. Wenn das kein Grund zur Freude ist!

„Genug“

Von Caroline Krüger wurde der Begriff „genug“ vor mehr als zwei Jahren in unsere Vor-Gespräche zum ABC des guten Lebens eingebracht. Ich merkte sofort, dass das „Genug“ etwas mit mir und meinem Begehren zu tun hat. Wie ich das immer mache, probierte ich die Möglichkeiten dieses Begriffes von mir selbst ausgehend aus und experimentierte damit: beim Essen, beim Umgang mit Zeit, bei Tätigkeiten und beim Konsum, beim Schenken und vor allem bei der Arbeit, die ich verschenke. So entdeckte ich das „Genug“ als wunderbaren persönlichen Maßstab, der mir erlaubte, immer in der Perspektive der Fülle zu verbleiben und trotzdem sinnvolle Grenzen zu setzen, die meinem Wohlergehen förderlich waren. Was mich aber ebenso sehr interessierte, war die Frage, ob das „Genug“ auch ein politischer Maßstab werden könnte, der – ohne Fülle, Schönheit, Freiheit, Genuss, Differenz und weitere ABC-Begriffe außer Acht zu lassen und ohne allen Moralismus – zur Begrenzung von technologisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungen führen könnte, die einem „guten Leben für alle“ schaden bzw. es verhindern. Mir war klar, dass ich daran im Gespräch mit anderen weiterarbeiten wollte. Ein Internetlink zu Ivan Illichs Buch „Selbstbegrenzung“ machte mich darauf aufmerksam, dass dieser Denker sich auch schon mit diesem Thema beschäftigt hat. Ich fand, dass einige seiner Überlegungen für eine politische Auseinandersetzung mit dem „Genug“ hilfreich sein könnten.

In meinem Workshop bei der Denkumenta 2013 wollte ich dann mit anderen zusammen an diesem Thema weiterdenken. Zu Beginn trugen wir in einigen Runden Statements zu einem „dankbaren“, „sehnsuchtsvollen“ und einem „abgrenzenden“ Genug zusammen anhand der vorgegebenen Satzanfänge:

 

– Ich bin dankbar, dass ich genug …  habe

– Ich freue mich, wenn ich genug …

– Mir geht es gut, wenn ich genug …

 

– Ich möchte endlich mal genug …  haben

– Ich wünsche mir genug …

– Ich sehne mich danach, genug … zu haben

 

– Davon hab ich genug, dass …

– Mir reicht es jetzt mit …

 

Wie ich es von italienischen Philosophinnen gelernt habe, gingen wir von dem aus, was wir schon haben, und von unserer Sehnsucht, vom Reichtum unseres Begehrens. Nicht von dem, was uns fehlt, vom Mangel. Beim abgrenzenden Genug ging es um ein Zuviel, das dem guten Leben schadet. Und damit lag der Schwerpunkt auch mehr auf dem guten Leben für alle als auf einem Kampf gegen das Zuviel.

Über vieles, was wir als ein Zuviel empfinden, sind wir uns schnell einig, beispielsweise Kriege, Rüstungsproduktion, Atomkraftwerke, Ressourcen- und Lebensmittelverschwendung, Zeitdruck, Arbeitsüberlastung usw., die Frage ist nur, wie diese Dinge begrenzt werden könnten und was wir dafür tun (und lassen) können oder wollen.

Ivan Illichs „Pamphlete“ aus den 1970-er Jahren richteten sich gegen ein Zuviel an etwas, von dem sich alle oder doch die meisten damals einig waren, dass es etwas Gutes ist und dass wir überall auf der Welt immer mehr davon brauchen. Vor allem wandte er sich gegen zu viel Beschulung und Expertentum, zu viel Medizin und Lebensverlängerung um jeden Preis, gegen immer höhere Geschwindigkeiten, gegen Sozialarbeit und Institutionen generell. Heute gäbe es vielleicht einen weitgehenden Konsens, dass wir überall auf der Welt immer mehr Arbeitsplätze und Energie brauchen, gegen den er sich möglicherweise stark machen würde. Illich kam zu seinen Einsichten, weil er die Welt außer aus deutsch-österreichisch-US-amerikanischer Sicht auch aus der Perspektive der Bevölkerung von Puerto Rico und vor allem von Mexico betrachtete, wo er zeitweise lebte.

Auf Englisch heißt Illichs Titel „Tools für conviviality“, ist also positiv formuliert, nicht so negativ und nach Moralismus riechend wie „Selbstbegrenzung“.

„Tools“ ist bei ihm ein sehr weit gefasster Begriff und schließt alles mit ein, was Menschen erfunden haben, „um sich fortzubewegen oder zu verweilen, als Heilmittel für Krankheiten, an Wegen und Mitteln zur Verständigung und zur Versorgung mit Lebensmitteln“. „Tools“ sind also auch Institutionen. Nach Illich gibt es bösartige Wucherungen dieser „Tools“, die einmal Fortschritt bedeutet haben, dann aber durch Experten- und Spezialistentum plus Machtkonzentration dazu führten, dass Menschen die Freiheit genommen wurde, das selbst zu tun, was sie selbst tun könnten, und sie in Arbeit und Konsum zu Sklaven der „Tools“ wurden. Menschen haben beispielsweise die Fähigkeit, „zu heilen, zu trösten, sich zu bewegen, ihre Häuser zu bauen und ihre Toten zu begraben“, schreibt Illich. Es gehe darum, in politischen Prozessen darauf hinzuarbeiten, Tools zu begrenzen, um wieder zu einer Balance zu kommen.

„Werkzeuge“, „Tools“, sind dann convivial, wenn sie dem guten Zusammenleben dienen, wenn sie uns die Freiheit lassen, sie in Anspruch zu nehmen oder auch nicht, ohne dass das Benachteiligung, Ächtung oder Abwertung nach sich zieht.

Eine conviviale Gesellschaft gewährleistet den Einzelnen freien Zugang zu den Werkzeugen, diese Freiheit wird nur um der Freiheit der anderen willen eingeschränkt. Conviviales Leben und Zusammenleben ist gekennzeichnet durch eine disziplinierte, schöpferisch-spielerische Leichtigkeit, durch eine feine Ausgewogenheit zwischen dem, was Menschen für sich selbst tun können und dem, was Werkzeuge im Dienste anonymer Institutionen für sie tun können. Eine Erhöhung des Innovationstempos ist nämlich nur sinnvoll, wenn gleichermaßen für Verwurzelung in der Tradition gesorgt, wenn eigene Lebensinhalte und Geborgenheitsgefühle gestärkt werden. Für Illich ist ein Ausschluss schädlichen Werkzeugs und die Beherrschung des nützlichen die wichtigste Priorität heutiger Politik. Denn „Werkzeuge“ können, wenn ihre Entfaltung nicht politisch begrenzt wird, von Helfern zu Herren und Meistern und schließlich zu Henkern werden.

Von einem radikalen Monopol spricht Illich, wenn in einem Lebensbereich die Freiheit, Dinge selbst zu erschaffen und zu gestalten, ganz verloren gegangen ist. (Beispiele: Tote beweinen und bestatten, Lernen versus institutionalisierter Schulung, Häuser bauen, gesunder Menschenverstand versus wissenschaftlicher Gutachten). Wenn Menschen also ihre ureigene Fähigkeit aufgeben, für sich und andere das zu tun, was sie können, um stattdessen etwas „Besseres“ zu bekommen, was ihnen nur ein wichtiges „Werkzeug“ geben kann.

Die Kosten für die Wucherungen der Tools und für die radikalen Monopole tragen schon jetzt alle Menschen, vor allem auch die, die solche Tools gar nicht brauchen oder gar keinen Zugang dazu haben.

Da nur wenig Zeit blieb, um die Nützlichkeit von Illichs Begriffen an konkreten Fragen aus dem Leben der Workshopteilnehmerinnen zu erproben, meinten diese, sie hätten noch nicht genug und baten um eine Verlängerung. Wir hängten also einen zweiten Workshop an, was sich für mich – und vielleicht auch für einige Teilnehmerinnen – im Nachhinein im Rahmen der Fülle der Tagungsangebote als ein „Zuviel“ herausstellte. Sicher werde ich bei anderer Gelegenheit und in anderen Zusammenhängen weiter über das abgrenzende „Genug“ und Illichs Anregungen dazu diskutieren. Vielleicht gelingt es ja dann, Wege zu einer politischen Begrenzung schädlicher oder ausufernder Tools zu finden.

Wie lebendige Ideen mit bunten Kärtchen totgeschlagen werden

Ich habe es mehrmals selbst erlebt und andere haben mir davon erzählt: In der ersten Phase einer Zukunftswerkstatt oder eines anderen Treffens, bei dem es um die Veränderung einer Einrichtung oder um die Ideenfindung für gesellschaftliche Veränderungsprozesse ging, vielleicht auch um die Formulierung eines Parteiprogramms, sprühte der Raum nur so vor Lebendigkeit, Engagement und Visionen von Neuem. Und am Ende, als die Ergebnisse präsentiert wurden, fragte man sich, wofür man nun den schönen freien Samstag geopfert hatte. Mit großem Getöse hatte mal wieder eine Elefantin eine Maus zur Welt gebracht oder sogar nur ein paar Elefantenköttel, statt eines schönen Schmetterlings war aus einer Raupe wiederum eine Raupe geworden, vielleicht mit ein paar bunten Flecken. Und wenn es dann darum ging, wer die sogenannten neuen Ideen nun umsetzen sollte, breitete sich allgemeine Lustlosigkeit aus.

Warum ich in solchen Situationen jedes Mal großen Widerwillen spürte, wenn die ModeratorInnen die bunten Kärtchen verteilten, die am Ende einer Gruppenarbeitsphase an eine Wand gepinnt werden sollten und die dann im weiteren Prozess immer wieder neu geordnet und mit Überschriften auf anderen bunten Kärtchen versehen werden, ist mir bei unserem diesjährigen Denkwochenende von „Kultur schaffen“ klargeworden, eher als Nebenprodukt, denn wir sprachen über ganz andere Themen. In unseren Treffen geht es im Gegensatz zu dem oben Beschriebenen nicht darum, dass am Ende ein Ergebnis oder gar ein Programm herauskommt. Wir denken nur miteinander, ausgehend von dem, was jede von uns aus ihrem Leben in das Gespräch einbringt. Und trotzdem nehmen eigentlich alle jedes Mal viele neue Ideen aus unseren Gesprächen mit, die dann in unserem jeweiligen Alltag und in anderen politischen Projekten wirksam werden.

Dieses Jahr gerieten wir recht schnell in einen ungeheuer intensiven „Flow“, der die meisten von uns so sehr begeisterte, dass wir sogar unsere sonst nach jeder Pause angewandte Praxis „vergaßen“, durch Runden, in denen jede kurz mitteilt, wo sie gerade steht und an welchem Thema sie weiterarbeiten möchte, immer wieder im Denkprozess innezuhalten und quasi einen Schritt zurückzugehen und den Prozess von außen anzuschauen.

Zwei Teilnehmerinnen begründeten ihr Empfinden, nicht so richtig am gemeinsamen Denkprozess teilnehmen zu können, schließlich mit der Kritik, im Gegensatz zu sonst hätten wir uns gar nicht richtig auf ein Thema geeinigt, wir würden nichts richtig auf den Begriff bringen und zu Ende denken, alles sei so unstrukturiert. Uns andere hatte gerade das so fasziniert, dass wir, nachdem wir von einem der Themen ausgegangen waren, die wir nach der Anfangsrunde aufgelistet hatten, ständig Zusammenhänge zwischen den Themen finden konnten,  dass wir also mehrere Themen gleichzeitig mit unserem Denken umkreisten.

Auf die Aussage einer der Kritikerinnen, es habe ihr gefehlt, dass wir das, was wir gemacht hatten, nicht benannt hatten, entgegnete eine andere Teilnehmerin: „Es ist aber vielleicht auch ein Weg, der erst gegangen werden muss, weil erst im Prozess herauskommt, wie man etwas benennen kann.“ An dieser Stelle fiel mir meine Erfahrung mit der Zukunftswerkstatt ein. Denn hier wird mithilfe der bunten Kärtchen der lebendige Denkprozess dadurch kastriert, dass man gezwungen wird, etwas zu benennen, es auf einen Begriff zu bringen, wofür die neuen Worte noch gar nicht gefunden worden sind, weil noch nicht lange genug darüber nachgedacht werden konnte. So werden die Ansätze zu neuem Denken, die zu Beginn des Prozesses noch Begeisterung spürbar werden ließen, in alte Begriffe und Strukturen aus der Vergangenheit gepresst, der neue Wein wird in alte Schläuche gefüllt, wie es Jesus in einem biblischen Gleichnis so zutreffend beschrieben hat.

Dazu fiel mir später noch ein, dass die Piratenpartei in den Medien gerade deshalb immer wieder als nicht ernstzunehmendes Phänomen beurteilt wird, weil einige ihrer MitgliederInnen die Entstehung ihres Parteiprogramms einem lebendigen Prozess überlassen wollen und das, was in der Zukunft geschehen soll, nicht vorzeitig mit Begriffen und Programmen benennen wollen. Hoffentlich gelingt es ihnen, bei dieser Haltung zu bleiben.

Warum ich trotzdem für ein Betreuungsgeld bin

Doch, die Sache mit dem Betreuungsgeld ist ein großer gesellschaftlicher Aufreger. Da widerspreche ich meiner Denkfreundin Antje Schrupp. Dass es hier um eine wichtige gesellschaftliche Auseinandersetzung geht, wird schon daran deutlich, dass in der öffentlichen Diskussion darüber von Anfang an mit dem Schimpfwort „Herdprämie“ gearbeitet wurde, einem Begriff, der suggeriert, es gäbe eine staatliche Prämie dafür, wenn Frauen „an Haus und Herd zurückkehren“, also das tun, was sich vielleicht manche rückwärts gerichteten patriarchalen Männer für sich selbst wünschen und wovor sich die, denen die Freiheit von Frauen am Herzen liegt, sollte es tatsächlich zu einem breiten gesellschaftlichen Trend werden, zu Recht fürchten müssten. Aber diese Gefahr besteht überhaupt nicht: Denn Frauen wollen mit großer Mehrheit berufstätig sein und Kinder haben, mehr öffentliche Kinderbetreuung wird von Frauen schon seit Jahrzehnten gefordert und ist inzwischen wesentlich mehr akzeptiert als noch vor 20-30 Jahren und die Unternehmen brauchen die gut ausgebildeten jungen Frauen als Arbeitskräfte, (so Antje Schrupps Argumente).

Der witzige Begriff „Windelvoluntariat“, der in der Auseinandersetzung um die Vätermonate beim Elterngeld erfunden wurde, diffamiert im Gegensatz zur „Herdprämie“ nicht die Tätigkeit, um die es geht, sondern bezieht sich wirklich auf einen konkreten Aspekt dessen, was Männer in diesen Monaten lernen können: Dass Menschen nicht leben und groß werden können, wenn es nicht andere gibt, die in Zeiten, wo sie das nicht selbst können, dafür sorgen, dass sie nicht in ihrer Scheiße liegen müssen. Und dass Männer diese Erfahrung nun machen, wenn auch nur für kurze Zeit, zusammen mit der Erfahrung, wie anstrengend das Leben mit einem kleinen Kind ist, halte ich für sehr wertvoll im Hinblick auf eine veränderte gesellschaftliche Einstellung zu dem, was immer noch überwiegend Frauen leisten, wenn sie Kinder versorgen und betreuen.

Es ist mir egal, dass vielleicht nur deshalb ein Betreuungsgeld eingeführt werden soll, weil der Ausbau der Kita-Plätze nicht schnell genug voranzutreiben war, um den versprochenen Rechtsanspruch einlösen zu können. Für mich hat die Einführung eines Betreuungsgeldes eine große symbolische Bedeutung, ebenso wie es die Einführung des Elterngelds mit den Vätermonaten hatte. Es geht dabei nämlich nicht in erster Linie um das Geld, das ja sowieso lächerlich wenig ist angesichts dessen, was hier in den Familien für die ganze Gesellschaft geleistet wird. Zumindest wird mit dem öffentlich finanzierten Elterngeld und dem Betreuungsgeld sichtbar gemacht, dass Kinderaufziehen nicht nur Privatvergnügen, sondern eine wichtige gesellschaftliche Tätigkeit ist. (Sogar bei den Diskussionen um ein bedingungsloses Grundeinkommen wird dies immer wieder vergessen). Und wenn es eingeführt ist, kann ja weiter daran gearbeitet werden, dass es verbessert wird, vor allem auch, um der von Antje Schrupp zurecht kritisierten Umverteilung von unten nach oben entgegenzuwirken.

Ja, auch wenn ich mich damit als „Alte-Zeiten-Nostalgikerin“ abqualifizieren lassen muss, will ich, dass die Umstellung auf das, was Antje Schrupp die „neuen Zeiten“ nennt, verlangsamt wird, bzw. dass die neuen Zeiten anders aussehen. Ich möchte keine Gesellschaft, in der alles darauf ausgerichtet ist, dass möglichst wenig der wirtschaftlichen Verwertbarkeit menschlichen Lebens (als Erwerbstätige und als Konsumenten) im Weg steht. Ich möchte, dass die Frauen, die das wollen, sich – unter guten finanziellen Bedingungen – so viel Zeit für ihre Kinder nehmen können, wie sie möchten. Ich kenne eine Frau – altersmäßig könnte sie meine Tochter sein – die im Leben vor allem als Mutter tätig sein wollte und sich einfach nicht für Erwerbstätigkeit interessiert. (Sie war mal meine Arbeitskollegin, hat es also durchaus ausprobiert). Wenn ihr Partner mitgemacht hätte, hätte sie vermutlich noch mehr Kinder bekommen, weil sie so neugierig war, wie das jeweils nächste Kind sein würde. Ich höre Klagen von erwerbstätigen Frauen, die ihre Kinder vollzeit-kitabetreuen lassen, dass sie so viel vom Aufwachsen ihrer Kinder versäumen. Und ich denke, dass unserer Gesellschaft das Element der Entschleunigung gut tun würde, das dadurch verstärkt werden könnte, dass mehr Menschen die Möglichkeit bekommen, ohne Zeitdruck mit kleinen Kindern zusammen zu sein und von ihrer anderen Zeitlichkeit lernen zu können, anstatt sie an den Mainstreamzeitdruck anpassen zu müssen. Ich weiß, dass Menschen, die gern Hausarbeit machen und die Zeit dafür haben, Kinder ganz anders an die Liebe zu den Dingen heranführen können, zu der auch die Freude am Aufräumen, an der Pflege und am Reparieren von Dingen gehört, was im Hinblick auf eine Ressourcen schonende Zukunftsentwicklung wichtige Kompetenzen sind. Das halte ich in Kitagruppen und Schulklassen für äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der verschiedene Lebensentwürfe möglich sind, je nach dem, was einer Frau oder einem Mann liegt. (Und auch die Kinder sind übrigens nicht alle gleich. Manchen tut es überhaupt nicht gut, dauernd mit anderen zusammen sein zu müssen). Wenn es neben der Möglichkeit der Erwerbstätigkeit mit öffentlicher Kinderbetreuung auch noch eine andere Möglichkeit gibt, die ebenso angesehen ist und ebenso gut honoriert wird, würde mir das besser gefallen als die Anpassung an einen einzigen Lebensentwurf, wohin derzeit der Mainstream-Trend geht. Das war übrigens nicht immer so. In den achtziger Jahren gab es hier in der Mütter- und Ökologiebewegung auch unter „fortschrittlichen“ Menschen noch einen starken gegenläufigen Trend.

Das Betreuungsgeld ist, so wie es geplant ist, natürlich nur ein Schrittchen in diese Richtung. Und, ja, es gibt viel daran auszusetzen. Gesellschaftlich unwichtig ist das Thema deshalb aber noch lange nicht.

Weitermachen, mit Kainsmal

Letztes Wochenende war ich beim Treffen unserer Gruppe  „Kultur schaffen“. Einmal im Jahr denken wir ein ganzes Wochenende lang gemeinsam über Themen nach, die eine oder mehrere von uns gerade umtreiben.

Aus unserem Gespräch über Fukushima und die Folgen ergab sich die Frage, warum es in unserer Kultur so schwer ist, Fehler einzugestehen. Denn von denen, die bisher die Atomlobby unterstützt haben und jetzt plötzlich für den Ausstieg sind, hätten wir erwartet, dass sie zuerst einmal eingestehen, dass ihre vorherige Politik falsch war und Schaden angerichtet hat. Dass sie das nicht tun, führt dazu, dass wir ihnen nicht wirklich glauben können und daher wenig Hoffnung haben, dass die Katastrophe in Japan wenigstens bei uns zu einem nachhaltigen Umdenken führt.

Eine Mitdenkerin, die als Theologieprofessorin arbeitet, erklärte anhand der biblischen Geschichte von Kain und Abel, wie ein Umgang mit Schuld sein könnte, der weder das Geschehene verharmlost oder so tut, als könne man es durch eine Strafe ungeschehen machen, noch den oder die schuldig Gewordene in ihrer Existenz vernichtet. Nachdem Kain seinen Bruder erschlagen hat und nicht weiß, wie er weiterleben soll mit der allgegenwärtigen Angst vor Rache, macht Gott deutlich, dass Kain unter seinem Schutz steht, dass er nicht erlauben wird, dass Kain durch Rache vernichtet wird. Doch er zeichnet ihm ein Mal auf die Stirn, denn er bleibt von der nicht wiedergutzumachenden Schuld sein Leben lang gezeichnet.

Unsere politische Kultur ist so, dass Fehler so lange wie möglich vertuscht oder heruntergespielt werden. Wenn sie für alle offensichtlich sind oder schließlich freiwillig eingestanden werden, bedeutet das Rücktritt, Verzicht auf Machtpositionen und Ämter. Da die „Vernichtung“ bzw. die freiwillige Selbstdemontage so total ist, sobald der Fehler eingestanden wurde, finden es viele Leute verständlich, dass versucht wird, ein solches Ende zu vermeiden. Wie ungewöhnlich es ist, dass nach einem Fehler eine hohe Position sofort aufgegeben wird, auch wenn das niemand verlangt, zeigt die Reaktion auf den Rücktritt von Margot Käßmann als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, nachdem sie nach Alkoholgenuss Auto gefahren war und dabei erwischt wurde. Mit ihrem sofortigen Rücktritt setzte sie Maßstäbe: Nach ihr trat gleich noch eine Bischöfin zurück wegen eines Vorwurfs, der noch nicht einmal belegt war. Gerade ist der Dompfarrer und Dekan in Freiburg zurückgetreten, weil er unter Alkohol einen Unfall verursacht hat, bei dem zum Glück niemand verletzt und kein anderer geschädigt wurde. (Allerdings war es schon die dritte Verfehlung in dieser Richtung). Auch wenn viele Menschen solche Rücktritte bedauern, finden sie sie doch irgendwie richtig. Und so ging es mir bisher auch.

Nachdem ich auf den Sinn des Kainsmals hingewiesen wurde, sehe ich das jetzt anders. In einer Kultur, die die Menschen, die diese Geschichte aufgeschrieben haben, sich als gottgewollt, als gut für das Zusammenleben aller, vorgestellt haben, bedeuten sogar solche Taten, die nicht wieder gutzumachen sind, nicht völlige Vernichtung, nicht Verschwinden von der Bildfläche, nicht das Aufgeben von allem, was einem im bisherigen Leben wichtig war. Zur eigenen Schuld stehen heißt nicht, sich klein machen und in ein Mauseloch verkriechen. Es heißt aufrecht durchs Leben gehen mit dem Kainsmal auf der Stirn, d.h. im Bewusstsein, dass man einen Fehler gemacht oder Schuld auf sich geladen hat und dass das für die anderen Menschen sichtbar ist und bleibt. Nicht der Rücktritt, sondern das Weiterarbeiten mit dieser „Beschädigung“ würde meiner Meinung nach wirkliche Größe bedeuten. Dass ein Rücktritt leichter ist, als mit dem Kainsmal im Amt zu bleiben, hat Margot Käßmann sicher gewusst. Immerhin hatte sie die Wahl, im Gegensatz zu denen, die nicht freiwillig zurücktreten. Doch beides, der hochgelobte sofortige freiwillige Rücktritt und das verachtete Vertuschen, Herunterspielen und „am Amt Kleben“ sind Teil einer Kultur, die es erschwert, Fehler einzugestehen.

Eine Kultur, in der es möglich wäre, mit Kainsmal in einem Amt zu bleiben, setzt allerdings auch voraus, dass es eine Bereitschaft zum Verzeihen und die Ächtung eines Verhaltens gibt, das Fehler von politischen Gegnern für die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Ich stelle es mir jedenfalls schön vor, in einer Kultur zu leben, in der wir alle vor Augen haben, dass es zum Menschsein gehört, Fehler zu machen.