Wenn Müll aufsammeln nicht mehr peinlich ist

Als ich noch Lehrerin war, bekam ich auf die Bitte, im Klassenzimmer herumliegenden Müll aufzuheben und in den Papierkorb zu werfen, oft die Antwort: „Das ist nicht von mir“. Und das hieß: „Den Müll von jemand anderem hebe ich nicht auf.“ Es gab auch Kinder, mehr Jungen als Mädchen, die diesen Satz sogar dann sagten, wenn sie genau wussten, dass der Abfall von ihnen selbst stammte, weil sie vorher beim Weitwurf in den Papierkorb daneben gezielt oder die Sachen einfach unter ihrem Tisch fallengelassen hatten. Je nach meiner Stimmung bestand ich darauf, dass sie den Müll trotzdem richtig entsorgten, oder ich hob ihn selbst auf und sagte dazu: „Von mir ist er auch nicht“. Dabei war mir allerdings bewusst, dass ich damit höchstens für manche Mädchen Vorbild sein konnte, denn es war für die Kinder ja normal, dass eine Frau – die Mutter zuhause oder eine Putzfrau – meistens mit großer Selbstverständlichkeit den Dreck anderer wegmachte. Hätten männliche Kollegen ähnlich reagiert wie ich, wäre das sicher wirkungsvoller gewesen, doch diese kümmerten sich damals eher selten um Schönheit und Sauberkeit der Klassenzimmer und Schulhöfe, allenfalls wurde Müllsammeln von ihnen mal als Strafmaßnahme eingesetzt. Den Müll anderer wegzuräumen oder sich überhaupt mit Müll abzugeben galt – besonders für die Jungen ­– als ehrenrührig, es war unter ihrer Würde, sich zu einer so niedrigen Tätigkeit herablassen zu müssen.

Schon als Kind hat es mich geschmerzt, wenn eine schöne Umgebung durch achtloses Wegwerfen von Müll hässlich gemacht wurde. Bis zu den Umweltschutzbewegungen in den 1970-er und 1980-er Jahren war es ja noch ganz normal, dass jeder Ort einen bestimmten Abhang hatte, an dem der gesamte örtliche Hausmüll abgeladen wurde, und mit derselben Selbstverständlichkeit leiteten Industrieanlagen ihre Abwässer in die Flüsse. Da sind wir schon einen weiten Weg gegangen bis zur heutigen Müllentsorgung und Mülltrennung, die allerdings in anderen europäischen Ländern gerade erst in ihren Anfängen steht, was mich angesichts der Regulierungswut europäischer Institutionen in anderen Bereichen schon etwas wundert.

Lange blieb ich dabei stehen, mich über einen vermüllten öffentlichen Raum oder vermüllte Landschaft nur aufzuregen. Als ich vor etwa 25 Jahren eine betagte Nachbarin von mir dabei beobachtete, wie sie auf ihrem Weg in die Stadt mit dem Fahrrad anhielt, um den Müll am Straßenrand aufzusammeln, wirkte das auf mich wie eine Verrücktheit, und es war mir irgendwie peinlich. Ich hätte mir damals allenfalls vorstellen können, bei einer von der Gemeinde organisierten „Bachputzete“ mitzumachen. In der Öffentlichkeit den Müll anderer Leute aufzuheben war wohl auch für mich unter meiner Würde, es sei denn, es geschah im Rahmen einer organisierten Aktion.

Bei meinem letzten Urlaub auf einer landschaftlich sehr schönen Insel hörte ich mich wieder einmal darüber klagen, wie viel Plastikmüll überall herumlag, vor allem auch am Strand, wo wir doch inzwischen wissen, welche Folgen es hat, wenn das Meer voller Plastikmüll ist. Und da konnte ich meine Klagen und mein Schmerzlich-Berührt-Sein plötzlich nicht mehr ertragen. Ich fing damit an ­– zunächst noch etwas verschämt – bei jedem Strandspaziergang Plastikmüll einzusammeln. Natürlich war das „ein Tropfen auf den heißen Stein“, aber mir ging es damit besser als mit meinem vorheriges Schimpfen und Klagen.

Vor ein paar Tagen habe ich mich sehr über einen Artikel in meiner Zeitung gefreut. Da wurde von einem, dem Foto nach, etwa vierzigjährigen Mann berichtet, der in seiner Freizeit bis zu drei Stunden täglich Müll aufsammelt, in den Straßen seines jeweiligen Wohnortes. Das sei doch besser, als vor dem Fernseher oder dem Computer zu sitzen, meint er dazu. Zufällig traf er beim Sammeln einmal den Bürgermeister seines neuen Wohnortes, der ziemlich erstaunt auf seine Tätigkeit reagierte. Der Müllsammler „fühlte sich peinlich ertappt“ und begann sich zu rechtfertigen. Doch der Bürgermeister war natürlich begeistert und sorgte dafür, dass diese Aktion samt der von der Gemeinde inzwischen gespendeten Müllsammelausstattung – Warnweste, Plastikhandschuhe, Zange – publik gemacht wurde.

Kulturverlust im öffentlichen Raum 2: Rücksichtnahme

Neulich berichtete meine Zeitung in einer kleinen Notiz von einem Todesfall, der mit meinem Thema zu tun hat: Ein Radfahrer, der wahrscheinlich zu schnell und zu nah an einem Fußgänger vorbeifuhr, stürzte, weil dieser den Ellbogen herausstreckte, ob mit Absicht oder aus Versehen, erfahren wir nicht. Der Radfahrer stand schnell wieder auf und schlug den Fußgänger ins Gesicht. Dieser fiel dadurch so unglücklich hin, dass er an den Folgen seiner Verletzungen starb.

Diese Nachricht jagte mir einen ziemlichen Schrecken ein. Denn schon oft, wenn ich mal wieder zu Tode erschrocken war, weil ein Radfahrer in rasendem Tempo und so dicht an mir vorbeifuhr, dass er mich fast berührte, half mir gegen meine ohnmächtige Wut die Phantasie, dass ich ihn nur leicht anstupsen müsste, damit er von seinem hohen Ross herunterfällt (und sich ordentlich weh tut dabei).

Beide Beispiele zeigen, wie die Unfallgefahr und die Gewaltbereitschaft durch fehlende Rücksichtnahme potentiell steigen – bei mir Letzteres zum Glück nur in der Phantasie.

Man könnte auch eine falsche Verkehrspolitik dafür verantwortlich machen, dass so etwas passiert und dass Fahrradunfälle in letzter Zeit sprunghaft zugenommen haben. Denn damit der Autoverkehr nicht beeinträchtigt wird und um den RadfahrerInnen mehr Sicherheit zu bieten, müssen FußgängerInnen sich ihre Wege immer öfter mit RadlerInnen teilen, oft auch dann, wenn es offiziell – wie bei Wanderwegen – immer noch reine Fußgängerwege sind. Zusammen mit der Rücksichtnahme ging nämlich auch die Bereitschaft verloren, sich an Regeln zu halten. Seither ist das Bummeln in der Stadt und das Wandern in stadtnahen Wäldern leider keine Erholung mehr. Man könnte auch von einer umfangreichen Enteignung der zu Fuß Gehenden im öffentlichen Raum sprechen.

Als Radfahrerin bin ich natürlich froh, wenn ich nicht auf der Straße fahren muss. Bei einer Radtour in Schleswig Holstein fiel mir auf, dass RadfahrerInnen generell in den Ortschaften auf den Gehwegen fahren durften, weil die Radwege dann immer aufhörten. Es war deutlich, dass das den dort lebenden Menschen nicht gefiel, auch wenn ich sehr rücksichtsvoll war und meistens abstieg, wenn mir Menschen entgegen kamen. Politische Entscheidungen für gemeinsame Fuß- und Radwege setzen voraus, dass die Stärkeren – und das sind in diesem Fall die RadlerInnen – auf die Schwächeren Rücksicht nehmen, dass sie also bremsen und notfalls auch mal absteigen, anstatt die FußgängerInnen durch lautes Klingeln bei unverminderter Geschwindigkeit zu einem Sprung auf die Seite zu zwingen, was jedes Mal mit einem ziemlichen Schrecken verbunden ist. Eine Verkehrspolitik, die gemeinsame Fuß- und Radwege favorisiert, macht den Fehler, von einer noch vorhandenen Kultur der Rücksichtnahme auszugehen, denn nur damit kann das funktionieren. Ohne eine Kultur der Rücksichtnahme sind gemeinsame Rad- und Fußwege vor allem für ältere FußgängerInnen kaum noch gefahrlos begehbar.

Mit dem Verlorengehen der Fähigkeit und der Bereitschaft zur Rücksichtnahme hat es auch zu tun, dass FußgängerInnen nur noch selten ausweichen, wenn ihnen andere FußgängerInnen entgegenkommen. Hier könnte man auch von einer Kulturveränderung sprechen. Denn an die Stelle von Höflichkeit und Rücksichtnahme ist das Ideal der Coolness getreten, und das bedeutet, sich durch nichts und niemand vom eigenen Weg abbringen zu lassen, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen und einfach nur stur sein Ding zu machen. Auszuweichen oder auch nur die Geschwindigkeit zu reduzieren, würde bedeuten, Verlierer und Opfer zu sein, und das muss unbedingt vermieden werden. Inzwischen habe ich festgestellt, dass es nicht schwer zu erlernen ist, sich auf diese Weise durchzusetzen. Irgendwann hatte auch ich genug davon, von den Entgegenkommenden oder kurz vor mir meinen Weg Kreuzenden einfach weggedrängt zu werden wie von Panzern und ständig in Schlangenlinien um die mir entgegen Kommenden herumlaufen oder gar auf die Straße ausweichen zu müssen. Wenn auch ich mir das Ausweichen abgewöhne, wird jede Begegnung zu einem kleinen Machtkampf darüber, wer den oder die andere zum Ausweichen zwingt. Wenn ich mich stark fühle, kann mir das sogar hin und wieder Spaß machen, doch meistens ist es unerfreulich und anstrengend. Und da es nicht leicht fällt, vom Kampf- in den Rücksichtnahmemodus umzuschalten, erschrecke ich dann plötzlich über mein eigenes rücksichtsloses Verhalten. Immer öfter kommt es auch zu schmerzhaften Rempeleien oder zu Situationen, die schnell in Gewalt umschlagen können.

Dass Eltern damit aufhörten, ihren Kindern Rücksichtnahme beizubringen, beobachtete ich schon vor mehr als zwanzig Jahren in meiner damaligen Nachbarschaft. Auch in der Schule war diese Veränderung nicht zu übersehen. Natürlich musste das Erziehungsmodell, mit dem meine Generation aufgewachsen ist, durch ein anderes abgelöst werden, bei dem die Würde und körperliche Unversehrtheit von Kindern respektiert und bei dem sie vor Ausbeutung geschützt werden. Doch nun kippte das vielfach in das andere Extrem, „Kinder an die Macht“ war ein Slogan dieser Zeit. In der Folge konnte ich beobachten, wie Eltern, vor allem Mütter, zu einer Art Bediensteter ihrer Kinder wurden, während früher wir Kinder den Eltern zu Diensten sein mussten. Selbstbestimmung war von den 70er Jahren an das höchste Erziehungsziel, das Wahrnehmen und Respektieren der Bedürfnisse anderer wurde dagegen immer weniger eingeübt. Als kinderfeindlich beschimpft zu werden, riskierten schließlich alle, die den Kindern vermitteln wollten, dass sie nicht allein auf der Welt sind, dass es Ruhezeiten gibt, dass sie zwar auf den Gehwegen mit ihren Kinderrädern fahren dürfen, aber dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie laut klingelnd die FußgängerInnen verscheuchen. Oft wurde ich von Müttern angegriffen, wenn ich die Kinder freundlich um mehr Rücksichtnahme auf dem Gehweg oder darum bat, mit irgendeinem Lärm aufzuhören, z.B. als ein Kind immer wieder gegen die Metall-Einzäunung des Kinderspielplatzes unter meinem Fenster schlug, weil das so schön laut dröhnte. Man könne den Kindern doch nicht alles verbieten, war hier das Argument der Mutter. Auch neulich habe ich es im Zug wieder erlebt, dass die Eltern ihre das ganze Abteil beschallenden Kinder auch noch bestärkten, sich von der Alten ja nichts sagen zu lassen. Wenn ich es mit Kindern allein zu tun habe, ist es meistens nicht schwierig, ihnen achtsameres Verhalten beizubringen. So fiel mir in der Schule beispielsweise auf, dass einige Kinder einfach nicht wussten, wozu Türklinken da sind, sondern nur gelernt hatten, Türen lautstark zuzudonnern. Manche Kinder wussten nicht, wie Leise-Reden oder gar Flüstern geht, und wir hatten viel Spaß dabei, dies spielerisch auszuprobieren.

Ich sehe einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verlust von Rücksichtnahme und der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihren Kindern auch mal um des guten Zusammenlebens mit anderen willen Grenzen zu setzen. Wo Eltern ihren Kindern soweit irgend möglich die Führung überlassen – manche meiner Bekannten fragen ihre Kinder richtiggehend um Erlaubnis, wenn sie mal weggehen oder bei einem Kaffeeplausch etwas länger bleiben wollen – , würde das ja wahrscheinlich auch zu Konflikten führen, und um diese auszutragen, fehlt es in vielen Familien an Zeit und Kraft, da die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ohne totale Überforderung ja, wie inzwischen allgemein bekannt ist, ein neokapitalistisches Märchen ist. Konflikte durchzustehen kostet Kraft. Wenn ich müde bin, lasse ich auch alles lieber laufen.

Rücksichtnahme ist unbequem, sie macht Mühe. Es ist in Bus und Bahn bequemer, wenn der Platz neben einem leer ist, als zu zweit nebeneinander zu sitzen. Deshalb ist es inzwischen üblich, die Tasche neben sich zu stellen oder im Zug den Koffer. Da vor allem ältere Menschen sich scheuen, anderen Mühe zu machen, indem sie darum bitten, Tasche oder Koffer anders unterzubringen, was oft nur sehr widerwillig geschieht, stehen sie dann lieber. Auch ein überfüllter Bus oder Zug führt meiner Beobachtung nach nicht dazu, dass die mit Taschen belegten Plätze von sich aus frei gemacht werden.

Es macht auch Mühe, das Gepäck im Zug so unterzubringen, dass es die durch den Gang Gehenden nicht behindert. Also lässt man es „erst mal“ stehen und schaut ungerührt zu, wie die anderen Menschen sich vorbeiquetschen oder ihre Koffer hochheben müssen, um über das Hindernis zu kommen. Es macht auch Mühe, den Müll, der sich bei einer längeren Zugreise angesammelt hat, in den Flur in die entsprechenden Müllbehälter zu bringen. Schließlich gibt es ja dafür Personal. Da mich der Müll stört, bin ich es inzwischen gewöhnt, zuerst meinen Platz im Zug aufräumen zu müssen. Mühe würde es auch machen, kleinen Kindern die Schuhe auszuziehen, bevor man ihnen erlaubt, auf die Sitze zu steigen, um besser hinausschauen zu können. Da kleinen Kindern schon lange von vielen Erwachsenen erlaubt wird, mit ihren Straßenschuhen auf die Sitze zu klettern – es sind ja nur Kinderschuhe! –, ist es nicht verwunderlich, dass auch Jugendliche und manchmal sogar Erwachsene ihre Schuhe an den Polstern der gegenüberliegenden Sitze aufstellen. Schließlich sitzt man so bequemer.

Dass Rücksichtslosigkeit und Bequemlichkeit zusammenhängen, fiel mir eines Tages an den Fahrradständern auf. Auch wenn das eigene Rad einen Fahrradständer hat, wird der nicht ausgeklappt, sondern das Rad einfach an den Fahrradbügel angelehnt. Dadurch kippt es dann gegen das Rad gegenüber und verheddert sich mit ihm, so dass es für die andere Person mehr Mühe macht, ihr Rad wieder freizukriegen. Diese Art von Bequemlichkeit hat auch mit der Gleichgültigkeit und Wegwerfmentalität gegenüber Dingen zu tun, da das Pflegen und Erhalten von Dingen nicht eingeübt wurde.

So ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die es selbstverständlich findet, dass die anderen Menschen sich in erster Linie um ihr Wohl und ihre Bequemlichkeit kümmern, dass Eltern sich beispielsweise vor ihnen abstrampeln, während sie als kleine Paschas und Prinzessinnen bequem im Fahrradwagen sitzen. Leider hat die Dominanz der Richtung der Frauenbewegung, die sich eine Verbesserung ihrer Lebensumstände durch die Angleichung an das männliche Modell erhoffte, auch dazu geführt, dass der Benachteiligung, die viele Frauen meiner Generation darin sahen, dass sie ihren Müttern im Haushalt helfen mussten und ihre Brüder nicht, damit entgegengearbeitet wurde, dass die Mädchenerziehung an die Jungenerziehung angeglichen wurde, anstatt umgekehrt Jungen ebenfalls früh zur Mitarbeit anzuregen. Hierbei wäre natürlich auch ein väterliches Vorbildverhalten hilfreich gewesen.

Mit meiner Kritik an der fehlenden Erziehung zur Rücksichtnahme möchte ich keineswegs idealisieren, wie ich selbst aufgewachsen bin. Während heute eher erwartet wird, dass man Kinder beim In-der-Schlange-Stehen vorlässt – wodurch sie m.E. auch wieder etwas Falsches lernen, nämlich, dass Regeln für sie nicht gelten – musste ich als Kind im Laden oft länger warten, mit dem Argument, Kinder hätten jüngere Beine. Wenn ich im Weg stand, wurde ich nicht etwa gebeten, den Weg freizumachen, sondern wurde angeschrien und als rücksichtsloser „Stoffel“ beschimpft. Als „Stoffel“ wurden vor allem Menschen bezeichnet, die andere durch Gedankenlosigkeit unnötig behinderten. Ich murmle dieses Wort manchmal, wenn direkt vor mir jemand die Seite wechselt, so dass ich abrupt anhalten muss, mir die Tür ins Gesicht fallen lässt oder oben an der Rolltreppe mit Trolley stehenbleibt, so dass die Hochkommenden nicht von der Rolltreppe runter können. Auch wenn jemand einsteigt, bevor alle ausgestiegen sind oder sich beim Einsteigen oder beim Anstehen vordrängelt, fällt mir dieses Schimpfwort ein. Es war früher selbstverständlich, dass Kinder ihren Platz in vollen Zügen und Bussen hergeben oder sich zumindest einen Platz teilen mussten. Kein Kind hätte sich geweigert, für Ältere, Behinderte, für schwangere Frauen oder Frauen mit kleinen Kindern sofort aufzustehen. Dafür sorgte eine sehr moralische Erziehung, die letztlich mit Prügeln unterstrichen wurde. Während Kinder heute keine Verlierer sein wollen, wollten wir keine unhöflichen „Stoffel“ sein. Diese wurden kollektiv verachtet.

Ich bin aber sicher, dass Rücksichtnahme auch auf freundliche Weise und ohne Abwertungen gelehrt werden kann, doch dies erfordert Zeit, Geduld und Mühe. Um sich in der Familie diese Mühe und die damit verbundenen Konflikte zu ersparen, wird die Erziehung zu sozialem Verhalten auf Kindergarten und Schule verschoben. Professionelle PädagogInnen sollen sie leisten, Erzieherinnen in der Kita, Lehrkräfte in den Schulen. Doch die sind überfordert, all das Versäumte nachzuholen, bei viel zu vielen Kindern gleichzeitig. Bei dem Lärm von so vielen Kindern, die nicht wissen, wie Leise-Reden geht, weil nie jemand mit ihnen Flüstern geübt hat, können sie sich selbst oft auch nur durch Schreien Gehör verschaffen, sind also nicht unbedingt Vorbild für freundliches, friedliches, ruhiges Zusammenleben.

Ich kann nicht darüber hinwegsehen, dass für das Verlorengehen von Rücksichtnahme im öffentlichen Raum und ihre Folgen neben der Verschlechterung des gesamtgesellschaftlichen Klimas durch Sozialabbau und Wettbewerbsdruck auch falsche Weichenstellungen der Frauenbewegung verantwortlich sind. Und da meine Kritik daran nicht laut genug war – sie beschränkte sich auf Äußerungen in Vorträgen und Büchern mit geringer Auflage –, kann auch ich mich nicht ganz von der Verantwortung dafür frei sprechen.

Zum einen wurden „ritterliches“ und „Gentleman“-Verhalten abgelehnt, weil es als Heuchelei erlebt wurde und außerdem eine Vorstellung von Frauen als Schwache und Hilfsbedürftige unterstrich, das mit der Realität dessen, was viele von ihnen täglich leisten mussten, nichts zu tun hatte. Im Emanzipations- und Gleichstellungsdenken mussten die Frauen ja zeigen, dass sie in allem genauso (gut, stark, klug) waren wie Männer, dass sie also ihren Koffer selbst ins Gepäcknetz heben und ihre Reifen selbst wechseln konnten. Hilfsbereite Männer mussten nun damit rechnen, eine unfreundliche Abfuhr zu bekommen. Hätten wir Feministinnen damals erkannt und offensiv vertreten, dass Gentleman-Verhalten eine kostbare zivilisatorische Leistung war, ein Stück männliche „Anpassung“ an traditionell Frauen zugeschriebene Verhaltensweisen, die das Zusammenleben für alle schöner und leichter machten, hätten diese Verhaltensweisen von der Geschlechterfestlegung befreit und weiter erhalten bleiben können. Ich helfe gern anderen in den Mantel, auch Männern, und halte gern Türen auf.

Die andere falsche Weichenstellung habe ich schon erwähnt, die Anpassung der Mädchenerziehung an die ehemalige Jungenerziehung. In Kinderbüchern und Kindersendungen im Fernsehen, aber auch in hochgelobten Filmen für Erwachsene wurden nun die „bösen Mädchen, die überall hinkommen“ als Vorbild hingestellt. Mit fragwürdigem Erfolg: Auch wenn die weibliche Kriminalitätsrate immer noch viel niedriger ist als die männliche, ist sie in den letzten Jahrzehnten doch deutlich gestiegen. Wäre stattdessen die Jungenerziehung an die ehemalige Mädchenerziehung angepasst worden, indem auch sie zu achtsamem Verhalten gegenüber Menschen und Dingen angehalten worden wären, wozu Mithilfe bei der Haus- und Familienarbeit ein gutes Übungsfeld ist, wäre unser heutiges Zusammenleben im öffentlichen Raum wohl friedlicher und freundlicher. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den vollständigen Verlust der Kultur der Rücksichtnahme noch zu verhindern.

Kulturverlust im öffentlichen Raum 1: Grüßen

Während Begrüßungen unter FreundInnen und Verwandten in den letzten 15 bis 20 Jahren herzlicher geworden sind – hier sind erfreulicherweise inzwischen Umarmungen oder zumindest Luft- oder Wangenküsse üblich – ist die Kultur, einander auch dann zu grüßen, wenn man sich kaum oder gar nicht persönlich kennt, immer mehr am Schwinden. In den Städten liegt das natürlich daran, dass es einfach zu viele Menschen sind, denen wir auf unseren Wegen begegnen, doch auch dort wäre es durchaus möglich, die Menschen zu grüßen, denen wir öfter begegnen, z.B. im Haus, in der Nachbarschaft oder an der Bushaltestelle, oder ihnen zumindest zuzunicken oder zuzulächeln. Gerade wenn ich fremden Menschen, weil es sehr voll ist, körperlich näher kommen muss, als es meinem Bedürfnis entspricht, beispielsweise in einem Bus oder auch im Kino, ertrage ich das sofort leichter, wenn ich mit „Hallo“ oder ein paar Worten Kontakt gemacht habe, und dann reagiere ich auch bei Drängelei und Rempeleien eher mit Humor als mit Aggression.

In meinem kleinen Dorf konnte ich in den letzten 15 Jahren zuschauen, wie die Kultur des Einander-Grüßens verlorenging. Während ich erfreut und überrascht war, dass so gut wie alle Menschen einander grüßten, als ich in dieses Dorf zog, sind es inzwischen immer mehr Bewohner, vor allem in den Neubauvierteln, die diesen Brauch nicht mehr übernommen haben. Und im ganzen Dorf sind es vor allem die Kinder, die nicht mehr gelernt haben, wie Grüßen geht. Sie reagieren befremdet und ratlos, wenn ich sie grüße, weil sie gar nicht wissen, was sie damit machen sollen. Wenn ich mit Eltern aus der Nachbarschaft manchmal ein paar Worte wechsle, stehen die Kinder daneben, als gehe es sie nichts an, was die Erwachsenen da tun. Und ich habe nicht den Eindruck, dass sie sich wohl dabei fühlen.

Mit dem Grüßen bekunde ich ein wohlwollendes Wahrnehmen anderer Menschen. Wenn Menschen einander grüßen, zeigen sie, dass sie aufeinander achten, dass sie einander achten. Wo ich gegrüßt werde, fühle ich mich mehr zuhause als dort, wo Menschen einander ignorieren, und ich habe auch ein größeres Sicherheitsgefühl. Das Grüßen ist eine Hilfe, um die Scheu zu überwinden, mit anderen in Kontakt zu treten, ein einfaches und niederschwelliges Kontakteröffnungsritual. Nach Wikipedia geht das Verb „grüßen“ auf das westgermanische „grotjan“ zurück, das „zum Reden bringen, sprechen machen“ bedeutet. Das gefällt mir sehr gut, denn es ist wohl das Wichtigste am Grüßen, dass es nach einem Gruß leichter fällt, miteinander zu sprechen. Bei neuen Nachbarn, die nicht grüßen und auch deutlich signalisieren, dass sie das nicht wollen, ist es viel schwieriger, auch einmal etwas anzusprechen, was unter Nachbarn halt geregelt werden muss, um Hilfe zu bitten oder gar einen Konflikt anzugehen.

Wo es möglich ist, miteinander zu sprechen, ist es zudem wahrscheinlicher, dass wir Konflikte ohne Gewalt lösen können. Denn Gewalt – so Hannah Arendt – „ist eigentlich die einzige Art menschlichen Handelns, die definitionsgemäß stumm ist; sie wird weder durch Worte vermittelt, noch arbeitet sie mit Worten. Bei allen anderen Arten politischer oder nicht-politischer Tätigkeit handeln wir in der Sprache, und unser Reden ist Handeln“ (H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 315). Hierzu fallen mir zwei Beispiele ein: Als ich letzten Sommer einen Termin bei einer Physiotherapeutin hatte und spät dran war, machte ich mein Rad an einer Stange vor deren Nachbarhaus fest, weil ich auf die Schnelle nichts anderes fand, wo ich mein Rad anschließen konnte. Eine Stunde später sah ich, dass jemand an meinem Rad die Luft herausgelassen hatte, auch die Ventildeckel waren weg. Ich war ziemlich sicher, dass hier die Nachbarn „gesprochen“ hatten, die sich wahrscheinlich schon öfter geärgert hatten, dass vor der Praxis kein eigener Fahrradbügel zur Verfügung gestellt wurde. Das zweite Beispiel stand vor Kurzem in der Zeitung: Nachdem es geschneit hatte, malte eine junge Frau mit dem Finger Herzen in den Schnee auf die Autodächer, an denen sie vorbei kam. Ohne etwas zu sagen, kam ein Mann auf sie zu und schlug sie.

Natürlich kann auch das Grüßen wie wohl jede kulturelle Errungenschaft für anderes genutzt werden als dafür, den Menschen das Zusammenleben zu erleichtern. Ich denke dabei nicht nur an den Zwang in totalitären Staaten, auf eine bestimmte Weise zu grüßen, um sich mit dieser Staatsform oder ihrem Führer einverstanden zu erklären, sondern auch an die Bedeutung des Grüßens, um Hierarchien zu bestätigen. Als Kind bekam ich großen Ärger, als ich einmal meinen Klassenlehrer auf der Straße nicht grüßte, weil ich der Meinung war, das sei nicht notwendig, da ich ihn kurz zuvor in der Schule schon gegrüßt hatte. Im Rahmen einer Prügelerziehung war natürlich auch das Erlernen des Grüßens mit Zwang verbunden. Andere zu grüßen war in diesem Kontext kein freies Geschenk mehr, kein freiwilliges Zum-Ausdruck-Bringen von Wohlwollen und Wertschätzung, sondern hier war streng geregelt, wer wen zuerst und auf welche Weise grüßen musste, wie früher an den Fürstenhöfen und dann beim Militär. Um die Unterwerfung oder die Überhöhung des zu Grüßenden zu verstärken, lernten Jungen, eine Verbeugung – einen „Diener“ – zu machen, Mädchen verkleinerten sich durch einen „Knicks“. Wahrscheinlich ist auch der Gruß „Grüß (dich) Gott“ eine Form, sich selbst klein zu machen, im Sinne von: „Mein Gruß ist nichts wert, aber ich wünsche dir, dass Gott dich stattdessen grüßt“.

Wo das Grüßen erzwungen und streng geregelt wurde, verkam es zu einer toten Form. Sicher ist das der Grund, warum etwa von 1968 an offensichtlich immer mehr Eltern entschieden haben, es ihren Kindern nicht mehr beizubringen. Dabei verschwand zwar das formale, inhaltsleere und erzwungene Grüßen, doch gleichzeitig leider auch das, was an dieser Kultur sinnvoll und erhaltenswert war.

Wenn im öffentlichen Raum immer weniger gegrüßt wird, wird der Gegensatz zwischen Fülle, Wärme und Glück im Privaten und der Kargheit im öffentlichen Raum größer. Das trifft vor allem die Menschen, die allein leben, die vielleicht auch keine Arbeit haben oder die in ihren privaten Beziehungen unglücklich sind. Sie erleben schließlich nirgends mehr, dass sie von anderen wahrgenommen werden, dass ihnen Wohlwollen entgegengebracht wird, dass sie geachtet sind und dazugehören.

 

 

Gutes Leben und die Liebe zum öffentlichen Raum

Eine frühere Nachbarin von mir, die mit fast 80 immer noch wissenschaftlich arbeitete und Veranstaltungen leitete, sah ich vor etwa 15 Jahren öfter auf meinem Weg in die Stadt am Straßenrand oder auf dem Grünstreifen in der Mitte Müll auflesen, den sie dann auf ihrem Fahrrad-Gepäckträger nach Hause brachte und dort entsorgte. Ich fand ihr Verhalten damals lächerlich und peinlich, niemals hätte ich sie in dieser Situation angesprochen oder ihr gar geholfen. Vor allem hielt ich ihre Reinigungsversuche für komplett sinnlos. Hätte sie versucht, den Vorplatz vor unserem Wohnblock oder die angrenzenden Grünflächen auf diese Weise sauber zu halten, hätte ich noch Verständnis dafür gehabt. Leider habe ich sie nie danach gefragt, warum sie das tat.

Letzten Sommer sah ich, wie eine ebenfalls etwa 80-jährige Frau am Straßenrand in einer öffentlichen Anlage verblühte Blüten abpflückte, und freute mich einfach nur darüber. Hätte ich es nicht eilig gehabt, hätte ich mir sogar vorstellen können, ihr dabei zu helfen. Nun denke ich darüber nach, ob das Bedürfnis nach Schönheit in einem öffentlichen Bereich, den man täglich durchquert, und die Bereitschaft, etwas dafür zu tun, vielleicht etwas mit dem Älterwerden zu tun hat. Und ob vielleicht auch die Wertschätzung für den öffentlichen Raum und seine Gestaltung erst dann spürbar und sichtbar werden kann, wenn er mehr wird als ein Bereich, den man nur schnell hinter sich bringt, um von der Wohnung zur Arbeit und von der Arbeit zur Wohnung zu kommen.

Vor der Zeit meiner Berufstätigkeit, als Schülerin und als Studentin, war mir der öffentliche Raum ebenfalls sehr wichtig. Bei Reisen in große Städte fand ich die Orte, „wo etwas los war“, wo sich junge Leute trafen, viel interessanter als die zu besichtigenden Sehenswürdigkeiten. Ich freute mich über Plätze und Parks, wo ganz viele unterschiedliche Menschen und Menschengruppen sich frei bewegen konnten und wo viel mehr erlaubt war, als ich von meinem kleinstädtischen Umfeld gewohnt war. Damals kämpften wir an unseren Studienorten eher gegen Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, wir ärgerten uns über alte Leute, die daran Anstoß nahmen, wenn wir uns einfach auf dem Pflaster niederließen oder wenn wir uns in der Öffentlichkeit küssten, kämpften aber auch – vergeblich ­– gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr und gegen Gesetze, die uns demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum der Hochschule entzogen. Ich denke, dass damals meine bis heute andauernde Liebe zum öffentlichen Raum entstanden ist. Es gibt für mich nach wie vor kein besseres Anti-Depressivum, als mich entspannt und ohne Zeitdruck im öffentlichen Raum zu bewegen.

Strukturell sind es zwar junge und alte Leute gleichermaßen, vor und nach dem Aufgefressenwerden durch Berufstätigkeit und Familienpflichten, für die es besonders wichtig sein könnte, sich für gutes Leben und Zusammenleben im öffentlichen Raum einzusetzen, konkret sind sie dort jedoch eher GegnerInnen. Beispielsweise gelang es trotz vieler Versuche „im Guten“ in Freiburg bis heute nicht, den jungen Leuten, die auf den Plätzen der Innenstadt die ganze Nacht lautstark feiern wollen, die Perspektive der Anwohner, die nachts schlafen wollen und müssen, nahe zu bringen. Auf einem Platz wurde z.B. eine „Säule der Toleranz“ aufgestellt, die nachts von einer bestimmten Uhrzeit an die Farbe wechselte. Diese wurde aber schließlich immer weniger beachtet und irgendwann sogar teilweise zerstört. Auch mit Abfällen übersäte Rasenflächen, nachdem dort das bestandene Abitur gefeiert wurde, lassen leider nichts von einer Wertschätzung des öffentlichen Raums erkennen und zeigen, dass die Verachtung von Care-Tätigkeiten und den Menschen, die sie verrichten, auch bei der zukünftigen Elite ungebrochen fortbesteht.

Die Frage nach dem guten Leben im öffentlichen Raum – beziehungsweise nach dem Zustand des öffentlichen Raums als Gradmesser für gutes Leben in einer Stadt oder einem Land – hat mich immer wieder beschäftigt, und zwar um so mehr, je mehr Zeit ich dort verbrachte. So fiel mir bei einem Urlaub an einem norditalienischen See der krasse Gegensatz zwischen der Schönheit und Gepflegtheit privater Gärten und der Hässlichkeit und Verwahrlosung des spärlichen öffentlichen Raums auf. In einer Kleinstadt im Schwarzwald war an breiten Straßen, fehlenden Gehwegen und ewiglangen Rotphasen der wenigen Fußgängerampeln zu erkennen, welcher Blickwinkel im Gemeinderat dominierte und welcher offensichtlich komplett fehlte. Wenn ich von Reisen ins Ausland zurück kam, nicht nur aus muslimischen Ländern, sondern auch aus Frankreich und Italien, war ich besonders dankbar dafür, wie frei ich mich als Frau ohne männliche Begleitung hier im öffentlichen Raum bewegen konnte, ohne belästigt zu werden, oder auch darüber, dass sich überhaupt Frauen im öffentlichen Raum aufhalten. Bei einem Besuch in einer Vorstadt von Lissabon stellte ich fest, dass hier überhaupt niemand zu Fuß unterwegs war. Aus Angst vor Überfällen und Entführungen verließen die Menschen ihr von einer hohen Mauer umgebenes Grundstück nur im Auto. Kinder wurden sogar zu den Freunden in der nächsten Querstraße mit dem Auto gebracht und durften nie allein den eigenen Hof verlassen. Ähnlich erlebte ich es schon Anfang der 70er Jahre in amerikanischen Vorstädten. Hier gab es also außer für ein paar unwissende Touristen und für Autofahrer überhaupt keinen öffentlichen Raum unter freiem Himmel mehr. Sehr bedrückend fand ich es auch, wenn ich – vor allem nach der Wende in Ländern des ehemaligen Ostblocks – den Eindruck hatte, niemand habe Interesse oder sei bereit, mit Fremden Kontakt aufzunehmen, der öffentliche Raum sei also, abgesehen von geschäftlichen Transaktionen, kontaktlos und stumm.

Vor einigen Jahren schrieb ich einen Text darüber, wie sich das Verständnis über das, was als privat und als öffentlich gilt, seit 68er-Bewegung und Frauenbewegung gewandelt hat. Damals hatte ich die Hoffnung, der öffentliche Raum könnte einmal so etwas wie eine große Wohnküche werden, in der viele Verschiedene zusammenkommen, die sich auch für die Gestaltung dieses Raumes verantwortlich fühlen. Heute habe ich eher den Eindruck, dass die gesellschaftliche Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung geht, weg vom Gestalten des öffentlichen Raums, hin zu noch mehr Privatheit und Eigeninteresse. Ich habe lange gezögert, über das zu bloggen, was ich dabei beobachte, denn ich möchte keine der Alten sein, die ständig herumnörgeln, alles werde schlechter und alles werde weniger, und früher sei alles besser gewesen. Doch da ich vom Reisen her weiß, wie unterschiedlich mein Wohlbefinden im öffentlichen Raum sein kann, ist mir auch klar, dass Freiheit und mein Wohlbehagen im öffentlichen Raum auch hier verloren gehen können, ebenso wie der Raum für Politik durch bestimmte Entwicklungen verlorengehen kann. Deshalb plane ich eine kleine Serie von Blogposts über Veränderungen im öffentlichen Raum, die ich mit „Kulturverlust“ überschreiben möchte. Mir ist bewusst, dass dieser Begriff und auch einige meiner Beobachtungen in Zeiten einer plötzlich auftretenden Massenbewegung von Menschen, die den Untergang der Kultur des Abendlandes fürchten, die Gefahr birgt, Zustimmung von der falschen Seite zu bekommen. Doch gerade auch deshalb erscheint es mir wichtig, über meine Beobachtungen und die Sorgen, die sie in mir auslösen, zu schreiben.