Mehr Bildung mit weniger Schule

Illichs Engagement für andere Möglichkeiten des Bildungserwerbs hatte zunächst viel damit zu tun, dass er die hohe wirtschaftliche Belastung beim Aufbau von Schulsystemen nach westlichem Muster in Entwicklungsländern wahrnahm. Vor allem empörte ihn die Ungerechtigkeit, dass die ganze Bevölkerung dafür bezahlen musste, während nur ein verschwindend kleiner Teil in den Genuss dieser Bildungsangebote kam. Und die Herausgefallenen oder Abgewiesenen wurden in den wenigen Jahren ihres Schulbesuchs auch noch mit dem Glauben infiziert, dass sie selbst an ihrer zukünftigen Unterlegenheit schuld seien.

Illichs Vorschläge gehen daher an vielen Stellen vom kleinen Bildungsetat in armen Ländern aus. Dieser Etat würde nämlich genügen, „um einer großen Zahl von Kindern und Erwachsenen Jahr für Jahr einen Monat intensiver Bildung zu ermöglichen“, außerdem würde er auch noch für die Verteilung von pädagogischen Spielen an die Familien reichen sowie für wiederkehrende Abschnitte einer intensiven Lehrlingsausbildung. Illich wünscht sich, „dass jeder Puertoricaner das Recht auf einen gleichen Anteil am Bildungsbudget hat. Das ist etwas ganz anderes und viel Konkreteres als das bloße Versprechen eines Platzes in der Schule“ (Schulen helfen nicht, S. 18/19). Er denkt über eine Art Grundrecht nach, nach dem jede Person eine genaue Vorstellung davon hat, welche Mittel für Bildungszwecke ihr zustehen und wie sie sich diese verschaffen kann. An anderer Stelle spricht er von einer „Bildungskreditkarte“ in der Hand jedes Staatsbürgers (Schulen helfen nicht, S. 134 u. 153).

Statt Kinder und Jugendliche viele Jahre ihres Lebens in Klassenzimmern einzusperren und weitgehend von der Welt fernzuhalten, möchte er die pflichtmäßige Schulzeit radikal auf ein bis zwei Monate jährlich verkürzen, doch dann soll sich diese Art formeller Bildung über die ersten zwanzig oder dreißig Jahre im Leben jedes Menschen erstrecken. In der übrigen Zeit müsse auch noch Raum für Muße bleiben und Zeit, um eigenen Erkenntnissen nachzugehen. Illich möchte die Schulpflicht also keineswegs ganz abschaffen, sondern sie in gewisser Weise sogar ausweiten. Dabei denkt er neben ansprechenderen Bibliotheken auch an eine subventionierte Umgestaltung industrieller Anlagen und anderer Arbeitsplätze, um dort ebenfalls Lernmöglichkeiten zu schaffen. Fabriken sollten sich zudem verpflichten, in der arbeitsfreien Zeit als Ausbildungsstätten zu dienen (Schulen helfen nicht, S. 32 und 133). Die bildende Wirkung aller Institutionen müsse wieder zunehmen. Dafür müssten wir lernen, „die soziale Bedeutung von Arbeit und Freizeit daran zu messen, wie viel Nehmen und Geben in puncto Bildung sie ermöglichen“ (Entschulung der Gesellschaft, S. 37).

Obwohl Illich 1970 noch nichts von den ungeheuren Bildungsmöglichkeiten des Internets wissen konnte, geht er davon aus, dass die Technik bereitstehe, „um entweder Unabhängigkeit und Lernen oder Bürokratie und Lehren zu fördern“ (Entschulung S. 85). Die Technik könne uns Zugang zu jeder Art von „Bildungsgegenständen“ verschaffen. Bildungsgegenstände sind erstens „Dinge und Verfahren“, über die wir durch direkte Anschauung etwas lernen können, zweitens „Fertigkeitenbörsen“ mit den entsprechenden Bildungsgutscheinen und drittens eine „Lernpartner-Vermittlung“ bzw. „Nachweisdienste für Erzieher aller Art“. Statt mehr Bildungstrichtern bräuchten wir mehr Bildungsgeflechte. Solche Geflechte stehen uns heute in großem Maße zur Verfügung, unter anderem können auch soziale Netzwerke uns Zugang zu zahlreichen Bildungsmöglichkeiten verschaffen. „Würde man die jungen Menschen vom frühesten Alter an dazu anregen, andere zu treffen, zu beurteilen und auszuwählen, so würde damit für ihr ganzes Leben ihr Interesse daran geweckt, sich für neue Bemühungen neue Partner zu suchen“ (Entschulung, S. 98/99).

Ich bin sicher, dass die Umsetzung von Illichs Vorschlägen, bzw. ihre Erprobung und Weiterentwicklung, mehr Menschen mehr Bildung ermöglichen könnte, ohne dass dies eine große wirtschaftliche Belastung wäre. (Für ihn ist unser jetziges Bildungssystem eine riesige Verschwendung – an Geld, an Lebenszeit, an menschlichem Potential). Was es so schwer macht, Illichs Ideen überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist die Tatsache, dass Schule, die wir mit Bildung gleichsetzen, in ihrer jetzigen Form aus unserem Denken und Erleben einfach nicht wegzudenken ist. Vor allem können wir uns nicht vorstellen, wo die vielen jungen Menschen dann hin sollen, die jetzt in Schulen gepackt werden. Und natürlich muss sich einiges ändern, damit junge Menschen an vielen anderen Orten einfach „dabei sein“ können. Doch dies könnte unseren verknöcherten gesellschaftlichen Institutionen nur gut tun.

Ich denke, dass an dieser Stelle unsere Vorstellungskraft genauso versagt wie bei der ersten Konfrontation mit der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens, die vor etwa zehn Jahren auch noch als vollkommen verrückt galt und inzwischen von immer mehr Menschen als durchaus realisierbare Möglichkeit betrachtet wird. In mancher Hinsicht hängen beide gesellschaftlichen Umgestaltungen auch zusammen. Denn damit ein Bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren kann, brauchen wir ein anderes Bildungssystem, das es immer mehr Menschen ermöglicht, ihre Bildung selbst in die Hand zu nehmen, um ihr eigenes kreatives Potential zu entwickeln. Es sollte Menschen zum lebenslangen Lernen ermutigen, anstatt ihnen wie jetzt durch schulische Auslese niedrige oder höhere Lebenschancen zuzuteilen, für die sie sich dann auch noch selbst verantwortlich fühlen, was den Zurückgewiesenen die ursprünglich bei allen Menschen vorhandene Freude am Lernen gründlich austreibt, oft für ihr ganzes Leben.

Wie viel Wut und Selbsthass die Zurückweisung durch unser Schulsystem bei einzelnen Menschen bewirken kann, weiß ich aus meiner Arbeit mit Schulversagern. Sehr viele Menschen tragen ihr Leben lang Ressentiments gegen alles, was mit Bildung zu tun hat, mit sich herum. Dass Amokläufe in Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen stattfanden und dass es oft schulisch Gescheiterte sind, die sich terroristischen Gruppen anschließen, ist ebenfalls ein Hinweis darauf, dass die Schule als Zuteilungssystem für Lebenschancen vieles von dem wieder zerstört, was sie durch die dort vermittelten Inhalte an Bildung vermitteln möchte. Die Schule berühre uns tief innerlich, schreibt Illich. Sie halte die Menschen ihr ganzes Leben lang fest oder sie sorge dafür, dass sie in eine andere Institution hineinpassen. Entschulung sei deshalb die Grundvoraussetzung jeder Bewegung für die Befreiung des Menschen. Und: „Jeder von uns ist persönlich für seine Entschulung verantwortlich, und nur wir selbst haben die Macht, es zu tun“ (Entschulung, S. 58 u. 59).

Vieles ist in den letzten 45 Jahren seit der Veröffentlichung der hier besprochenen Bücher an unserem Schulsystem verändert worden, um die Auslesefunktion etwas abzumildern, indem sie auf einen späteren Zeitpunkt im Leben der Lernenden verlegt wird, vieles ist auch geschehen, um die Schulen etwas mehr der Welt gegenüber zu öffnen. Besonders Privatschulen und Schulversuche haben Möglichkeiten der Öffnung erprobt. Ihre Erfahrungen können wir nutzen, wenn wir eine grundlegende gesellschaftliche Entschulung in Illichs Sinn anstreben. Auf jeden Fall sollten wir unsere Kräfte nicht mehr in den seit Jahrzehnten gleichen bildungspolitischen Debatten und Reformen zu etwas mehr oder weniger an Auslese oder Öffnung verausgaben, die auch zur Zeit wieder von populistischen Bewegungen genutzt werden, sondern endlich einen Schritt weiter gehen in Richtung auf ein Bildungssystem, das statt an selbstunsicheren Konsumenten wirklich an demokratischen Staatsbürgern interessiert ist.

Schulen können nur selten Orte der Bildung sein

Wie im letzten Beitrag angekündigt, gehe ich nun auf Ivan Illichs Bildungsverständnis ein und auf die Argumente für seine Überzeugung, dass Schulen nur in seltenen Glücksfällen dafür geeignet sind, Menschen Bildung zu ermöglichen. Im nächsten Beitrag werde ich mich dann mit seinen Vorschlägen auseinandersetzen, wie mehr Menschen auf andere Weise als durch Beschulung zu mehr Bildung kommen könnten.

Das Verlangen nach Bildung sei heute dem Zwang zur Schulung gewichen. Die intensive Förderung des Schulwesens führe zu einer so weitgehenden Identifizierung von Schulbesuch und Bildung, dass die beiden Begriffe im täglichen Sprachgebrauch auswechselbar würden, schreibt Illich in „Schulen helfen nicht“ (S. 13 u. S. 129/130). Die Folge ist, dass sich kaum noch jemand Gedanken darüber machen muss, was Bildung eigentlich ist, denn wir bekommen sie ja quasi „im Paket“ geliefert und müssen sie nur noch konsumieren. Doch Bildung entsteht nur dort, wo ich mich selbst bilde, es ist ein aktiver Prozess der Auseinandersetzung mit dem, was mir begegnet oder angeboten wird.

Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, dann gab es in all den Jahren kaum Momente, in denen ich mich wirklich für das interessiert habe, was mir dort angeboten wurde. Ich ließ das Ganze halt wie alle anderen auch über mich ergehen und saß meine Zeit ab. Es gab ein paar engagiertere Lehrpersonen, insgesamt wenige, bei denen war der Unterricht wenigstens nicht ganz so langweilig. Wenn ich sie mochte, tat es mir leid, dass all ihr Engagement nicht mehr innere Anteilnahme bei mir wecken konnte. Manchmal heuchelte ich sogar Interesse, um ihnen eine Freude zu machen.

Bildungsanregungen bekam ich überwiegend außerhalb der Schule: Durch eine alte Psychagogin, die ich von meinem 16. Lebensjahr an bis Mitte zwanzig immer wieder besuchte, durch mein Engagement in sozialen und politischen Gruppen, durch selbst organisierte Lerngruppen während meines zweiten und dritten Studienabschnitts, durch meine Unterrichtsvorbereitungen als Lehrerin, durch selbst organisierte Fortbildungen im Rahmen meines Engagements für eine demokratische Umgestaltung von Schule (Freinet-Pädagogik), durch Begegnungen auf Reisen und schließlich durch mein autodidaktisches Philosophiestudium und Recherchen für meine Bücher und Übersetzungen.

Bildung geschieht nur dort, wo ich Fragen habe. In der Schule werden ständig Fragen beantwortet, die die Lernenden noch gar nicht gestellt haben oder überhaupt nicht stellen konnten, da ihnen dafür die Voraussetzungen fehlten, vor allem die entsprechenden Lebenserfahrungen in konkreten Kontexten. Schließlich werden sie ja jahrelang viele Stunden pro Tag von der wirklichen Welt ferngehalten. Außerdem bewirkt der Anpassungsprozess in den ersten Schuljahren, dass ihnen das Fragen abgewöhnt wird, weil sie schnell verstehen, dass ihre Fragen hier fehl am Platz sind. Solche Fragen halten sich nämlich selten an das, was gerade „dran“ ist.

Natürlich werden in der Schule auch unverzichtbare Fertigkeiten vermittelt: Lesen, Schreiben, Rechnen, Einführung in Fremdsprachen und das Auswerten von Texten zum Beispiel. Doch das kann in wesentlich kürzerer Zeit geschehen, wenn die Lernenden es zu ihrer eigenen Sache machen. Diese Erfahrung habe ich als Lerntherapeutin oft gemacht, wenn ich Jugendlichen oder Erwachsenen in wenigen Stunden Rechtschreibung beibrachte oder ihnen bei einer Prüfungsvorbereitung in einer Fremdsprache half. Fertigkeiten zu lehren ist jedoch etwas ganz anderes, als zur Bildung beizutragen. Illich schreibt: „Wer eine Fertigkeit lehrt, stützt sich auf die Anordnung bestimmter Umstände, die es dem Lernenden ermöglichen, festliegende Antworten zu finden. Wer zur Bildung führt oder sie lehrt, ist darum bemüht, passende Partner zusammenzuführen, damit Lernen stattfinden kann. Er führt einzelne Menschen zusammen, die von ihren eigenen ungelösten Fragen ausgehen.“ Und: „Schöpferisches, forschendes Lernen macht es nötig, Gleichgesinnte zu finden, die in diesem Augenblick von denselben Begriffen oder Problemen bedrängt werden“ (Entschulung der Gesellschaft, S. 32 und 33).

Illich hält es für eine Illusion, dass das meiste Wissen aus Unterweisung stamme. „Unterweisung kann unter bestimmten Umständen Wissen vermitteln. Die meisten Menschen erwerben jedoch den größten Teil ihrer Erkenntnis, ihres Wissens und ihrer Fertigkeiten außerhalb der Schule. Schule wird während eines ständig wachsenden Teils des Lebens zum Gefängnis“ (Schulen helfen nicht, S. 152). Das meiste Lernen sei nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es sei vielmehr das Ergebnis unbehinderter Teilnahme in sinnvoller Umgebung. „Die meisten Menschen lernen am besten, wenn sie ‚dabei sind’ (Entschulung der Gesellschaft, S. 51).“ Doch von den „sinnvollen Umgebungen“ würden Kinder und Jugendliche ferngehalten: „Wir wissen nichts mit denen anzufangen, die wir jetzt als ‚Kinder’ oder ‚Schüler’ bezeichnen und in die Schule schicken“ (Schulen helfen nicht, S. 32).

Dort würden junge Menschen vorwegentfremdet von Schulen, „die sie isolieren, gleichzeitig aber vorgeben, sie seien Erzeuger und Verbraucher ihres Wissens, das als Ware verstanden wird, die in der Schule auf den Markt gebracht wird. Die Schule macht aus der Entfremdung eine Vorbereitung aufs Leben und beraubt damit die Erziehung der Wirklichkeit und die Arbeit ihres schöpferischen Charakters. Indem die Schule die Notwendigkeit lehrt, belehrt zu werden, bereitet sie auf die entfremdende Institutionalisierung des Lebens vor. Haben die Menschen diese Lektion einmal gelernt, so verlieren sie jeden Anreiz, in Unabhängigkeit heranzuwachsen; sie finden Bezüglichkeit nicht länger reizvoll und verschließen sich den Überraschungen, die das Leben bietet, wenn es nicht durch institutionelle Definition vorausbestimmt wird“ (Entschulung, S. 58).

Doch wahre Bildung mache uns gerade für Überraschungen bereit. Bildung bedeute „die Ausbildung eines unabhängigen Lebensgefühls und eine Bezüglichkeit, die Hand in Hand damit geht, dass die im Zusammenleben der Menschen aufbewahrten Erinnerungen zugänglich und nutzbar gemacht werden“. Orte der Bildung seien Stätten der Begegnung, an denen „andere mich mit ihrer Freiheit überraschen und mir die eigene Freiheit bewusst machen“ (Schulen helfen nicht, S. 21).

Ich kann mich nur an ganz wenige Situationen erinnern, in denen ich mich während meiner Schulzeit mit Mitlernenden über inhaltliche Themen ausgetauscht habe. Trotzdem beherrschte das Thema „Schule“ viele unserer Gespräche. Wenn ich heute jungen Menschen zuhöre, beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln, dann sind auch sie oft mit Schule beschäftigt. Doch es geht nie um Lerninhalte, sondern fast immer um das Bewertungssystem: um ungerechte Beurteilungen, schwierige oder einfache Tests, um Lehrende, bei denen man gute oder eher schlechte Noten bekommt. Ein weiteres beliebtes Thema sind die kleinen Siege in den Machtkämpfen mit den Lehrenden, die ja immer auch Bewacher und Behinderer persönlicher Bewegungs- und Freiheitswünsche sein müssen, eine Rolle, die mir meinen Beruf als Lehrerin trotz aller Liebe zu den jungen Menschen und manchen Unterrichtsthemen immer auch zu etwas Beängstigendem und Verhasstem machte.

Schon als Jugendliche hatte ich das Gefühl, dass die Schule mir Bildungsgüter, die mir am Herzen lagen, kaputt machte, beispielsweise wenn wir Bücher durchnahmen, die ich schon gelesen hatte und die mir etwas bedeuteten. Das Schulwesen habe die Bildung entwürdigt, schreibt Illich. Denn zum einen kann man sie dort nicht bekommen, ohne sich gleichzeitig „mit fürsorglicher Aufsicht, unfruchtbarem Wettbewerb und Indoktrination“ abzufinden (Schulen helfen nicht, S. 20). „Wir haben uns angewöhnt, unser Bedürfnis nach mehr Lernen mit der Forderung nach immer längerem Einsperren in Klassenzimmern zu identifizieren. Anders ausgedrückt: wir haben die Bildung zusammen mit aufsichtlicher Fürsorge, Berechtigungswesen und dem Wahlrecht verpackt und das alles eingewickelt in die Belehrung über christliche, liberale oder kommunistische Tugenden“ (Schulen helfen nicht, S. 125).

Zum anderen führt schulisches Lernen uns weg von qualitativem hin zu quantitativem Denken: „Die institutionalisierten Werte, welche die Schule einimpft, sind quantitativer Art. Die Schule führt junge Menschen in eine Welt ein, in der alles messbar ist, auch ihre Phantasie und sogar der Mensch selber. Nun ist aber persönliches Wachstum nicht eine messbare Größe. Es ist ein Heranwachsen zu diszipliniertem Nonkonformismus […] Menschen, die auf das richtige Maß heruntergeschult worden sind, lassen sich ungemessene Erlebnisse entgleiten. Für sie wird, was sich nicht messen lässt, zweitrangig und bedrohlich. Sie brauchen ihrer schöpferischen Kraft nicht mehr beraubt werden. Durch Unterweisung haben sie verlernt, das Ihrige zu tun oder sie selber zu sein. Sie schätzen nur noch, was gemacht worden ist oder gemacht werden könnte“ (Entschulung, S. 52). Ein Wachstum jedoch, das man als endlosen Konsum und immerwährenden Fortschritt begreife, könne niemals zur Reife führen.

„Auswandern!“

Schon vor längerer Zeit hörte ich mal im Radio ein Interview mit einem Wirtschaftsforscher, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe. Er hatte untersucht, was die wichtigsten Prädiktoren für wirtschaftlichen Erfolg im Leben sind. Herausgefunden hatte er – und das ist ja keine große Überraschung –, dass dabei die Situation, in die man hineingeboren wird, also vor allem die wirtschaftliche Situation des jeweiligen Landes, den Ausschlag gibt. Das heißt, dass eine Person, auch wenn sie noch so ehrgeizig, strebsam, fleißig, gut organisiert und auch risikofreudig ist, sogar wenn sie sich eine sehr gute Ausbildung und die besten Abschlüsse erarbeiten konnte (hier kommt natürlich auch noch der soziale Hintergrund der Herkunftsfamilie ins Spiel), kaum eine Chance hat, es zu etwas zu bringen, wenn sie in einem „armen Land“ lebt. Am Ende wurde der Forscher gefragt, was er solchen Menschen denn empfehlen würde, und er antwortete: „Auswandern“.

Das fiel mir wieder ein im Zusammenhang mit der Tatsache, dass ja nicht nur Menschen, die vor Terror und Krieg flüchten oder vor einem gnadenlosen Militärdienst, nach Europa und besonders nach Deutschland kommen, sondern auch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“, die durch zumindest teilweise erfundene Verfolgungsgeschichten versuchen, als Asylanten anerkannt zu werden, weil es ja für die meisten keine andere legale Möglichkeit gibt, nach Europa bzw. nach Deutschland einzuwandern.

Gleichzeitig erinnerte ich mich an etwas, das ich einmal bei Ivan Illich gelesen hatte, in seinen Büchern „Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems“ und „Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft“, die beide 1972 veröffentlicht wurden. In diesen Büchern vergleicht der ehemalige Jesuit den weltweiten Glauben daran, dass Schulen etwas Gutes sind und dass es Menschen und Gesellschaften umso besser gehen wird, je mehr Beschulung sie sich leisten können, mit dem einstigen Glauben an eine Kirche, die ebenso mit Religion identifiziert wurde wie heute die Schule mit Bildung. Illich war überzeugt, dass das Schulwesen kaum Bildung ermöglicht, dass es wirklicher Bildung eher im Weg steht, dass die Schule bildungs- und gesellschaftsfeindlich geworden ist. In meinem nächsten Post werde ich darauf eingehen, wie er diese Haltung begründet und was er als Alternative vorschlägt.

Die Haupteffekte von Beschulung seien zum einen die Zurichtung für ein Leben als Konsumierende, auch als Konsumierende weiterer Beschulung oder anderer „Pakete“ von Waren und Dienstleistungen, denn das Organisieren von Verbrauchern sei zum wichtigsten Wachstumssektor der Wirtschaft geworden. Heute sei der größte Teil menschlicher Arbeitskraft damit beschäftigt, Nachfragen zu erzeugen, die durch eine kapitalintensive Industrie befriedigt werden können. Das meiste davon geschehe in der Schule. Zudem sei das Schulwesen selbst nicht nur die neue Weltreligion, sondern auch der am schnellsten wachsende Arbeitsmarkt der Welt, was für Entwicklungsländer eine ungeheure Belastung darstelle. (Illich hat außer in New York, wo er mit eingewanderten Puertoricanern arbeitete, auch in Puerto Rico und in Mexiko gelebt). Diese weltweite Anpassung an ein Leben als Verbraucher habe äußerst negative Auswirkungen auf unsere Erde: „Je mehr der Bürger auf den Verbrauch von abgepackten Waren und Dienstleistungen gedrillt wird, um so weniger scheint er imstande zu sein, seine Umwelt zu gestalten. Seine Kraft und sein Geld werden für die Herstellung immer neuer Modelle seiner Standardwaren aufgezehrt, und die Welt wird zum Abfallprodukt seiner Verbrauchergewohnheiten“ (Schulen helfen nicht, S. 126). Dabei schrumpfe die Phantasie, so dass sie sich eine Befriedigung der Bedürfnisse anders als durch die heute in den vielbewunderten Gesellschaften angebotenen „Packungen“ nicht mehr vorstellen könne.

Der zweite Haupteffekt von Schule besteht für Illich darin, dass sie die Grundlage für die Abstufung der gesellschaftlichen Rangfolge herstellt, die von den Einzelnen als selbst verschuldet erlebt wird. Schule bringt also politisch annehmbare Formen einer Diskriminierung hervor, welche die Ursache für geringeren Erfolg im Leben auf eigenes Versagen zurückführt. Allenfalls können noch „ungerechte Lehrer“ mit dafür verantwortlich gemacht werden. So liefert Schule denen, die sie besuchen und dann durchfallen oder abbrechen, eine Erklärung für ihre Unterlegenheit. „Dass durch Schulbildung Unterlegenheit erzeugt wird, zeigt sich in armen Ländern deutlicher und vielleicht schmerzhafter als in reichen Ländern“ (S. 151), denn an das Privileg von längerem Schulbesuch und vielleicht sogar einem Studium knüpfen sich besonders hohe Erwartungen für das spätere Leben. An die Stelle der erblichen Unterlegenheit in einer Ständegesellschaft tritt nun zunehmend die Unterlegenheit des Schulversagers, den man für sein Scheitern persönlich verantwortlich macht. „Dank ihrer Struktur als rituelles Spiel eines stufenweisen Aufrückens leistet die Schule wirksame Dienste als Schöpfer und Erhalter eines sozialen Mythos. Die Einführung in dieses rituelle Spiel ist viel wichtiger als die Frage, was oder wie etwas gelehrt wird. Das Spiel an sich schult, wirkt ansteckend und wird zur Gewohnheit. Eine ganze Gesellschaft wird in den Mythos des immerwährenden Verbrauchs von Dienstleistungen eingeweiht, und zwar in dem Umfang, in dem die Teilnahme an dem endlosen Ritual allenthalben Verpflichtung und Zwang zugleich wird“ (S. 55).

Selbst diejenigen, die bestenfalls zwei Jahre in der Schule zubringen – das waren 1970 in Lateinamerika, Asien und Afrika noch die ganz überwiegende Mehrheit ­–, „entwickeln Schuldgefühle, weil sie zu wenig Schulbildung verbrauchen. Das Kind lernt nur, dass diejenigen, welche mehr Schulbildung als es selber haben, einen höheren Rang und unbestrittene Autorität besitzen“ (S. 56).

Als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen und später als sozialpädagogische Familienhelferin erlebte ich gerade bei eingewanderten Familien die Enttäuschung und teilweise auch die Wut über dieses Betrogensein durch jenen sozialen Mythos sehr genau mit, wobei sich die Wut oft auch gegen die eigenen Kinder richtete. Diese Eltern waren vor allem auch deshalb nach Deutschland gekommen, weil sie sich für ihre Kinder einen Aufstieg erhofft hatten, der dadurch geschehen sollte, dass diese hier viel mehr Schulbildung bekommen konnten, als es den Eltern im Heimatland möglich gewesen war. Und nun landeten sie in den „schlechtesten“ Schulen und waren auch dort noch anderen unterlegen.

Auch in den Heimatländern selbst werden durch den Mythos, durch mehr Schul- und Studienjahre gesellschaftlich aufsteigen zu können, große Probleme verursacht. Denn es gibt dort ja gar nicht die Arbeitsplätze für eine höhere Zahl an länger ausgebildeten jungen Menschen, die ihr Studium als Investition mit höchstmöglicher Rendite betrachten, die also nach einer solchen Ausbildung nicht mehr zu einfachen und schlecht bezahlten Tätigkeiten bereit sind. So bleibt vielen nur noch die Hoffnung, durch eine Flucht nach Europa ihr Ziel, den sozialen Aufstieg, doch noch zu erreichen. Die Chancen dafür stehen nicht besonders gut.

Zum Flüchtlingsproblem und Flüchtlingselend tragen also nicht nur die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und die Waffenexporte der Industrieländer bei, sondern auch das, was alle – ob kapitalistisch, sozialistisch, christlich, muslimisch oder was auch immer – für das Beste halten, das für „Entwicklung“ getan werden kann: die Ermöglichung von immer mehr Schul“bildung“.

Was nicht vom Kapitalismus geregelt wird

Vor einigen Jahren hing ein riesiges Plakat am Freiburger Theater, mit dem für eine Veranstaltungsserie geworben wurde: „Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus?“ Als ich es las, dachte ich spontan: „Ja klar, die Welt der Gabe zum Beispiel!“ Denn ich hatte gerade entdeckt, dass die Gabe nach einer ganz anderen Logik funktioniert als der Tausch von Waren und Dienstleistungen. Doch sofort kamen mir Zweifel und ich merkte, dass die Frage am Theater falsch gestellt war. Sobald ich nämlich aus dem Gabegeschehen oder aus etwas anderem, beispielsweise der Subsistenzwirtschaft, eine Alternative zum Kapitalismus machen möchte, bekommt diese Charakterzüge, die mir nicht wünschenswert erscheinen, schon in der Vorstellung verbinde ich damit etwas Unfreies und Dogmatisches. Was ich über reine bzw. überwiegende Gabegesellschaften gelesen habe, in denen die Pflicht zum Geben und der gesellschaftliche Druck, ihr nachzukommen, eine große Rolle spielen, finde ich als Gesellschaftsmodell nicht erstrebenswert, dafür ist mir die Freiheit beim Schenken zu wichtig. Und die habe ich nur, wenn es auch den Tausch gibt. Doch vom Tausch zur kapitalistischen Gewinnmaximierung um jeden Preis ist der Weg nun mal nicht weit, oder?

Alternativen sind einander ausschließende Gegensätze. Wenn wir in Alternativen denken, werden wir zum einen dem Leben nicht gerecht, in dem es keine reinen Alternativen gibt, sondern eher ein „Sowohl – als auch“ oder ein „Mehr-das-eine-als-das-andere“, zum anderen binden wir uns im Gegensatzdenken an das, zu dem wir eine Alternative suchen, wodurch neue, ganz andere Ideen keine Chance haben. Und da wir ständig mit dem beschäftigt sind, gegen das wir uns abgrenzen und wozu wir einen Gegensatz bilden wollen, tauchen merkwürdigerweise schließlich auch in unserer „Alternative“ Dinge auf, die wir mit ihr bekämpfen wollten. Ich wollte beispielsweise eine ganz andere Lehrerin sein als mein Vater, der sehr streng war und vor dem wir alle Angst hatten. So wurde ich eine Lehrerin, vor der niemand Angst haben musste, und ich war sehr stolz darauf, wenn Eltern mir bestätigten, dass ihre Kinder im Gegensatz zu früher nun ohne Angst in die Schule gingen. Da ich aber so sehr an mein alternatives Verhaltensmodell gebunden war, um jeden Preis anders sein zu müssen als mein Vater, hatte ich keinen Raum und keine Freiheit für neue Ideen und Lernerfahrungen. So gelang es mir nicht sehr gut, mich einer Klasse gegenüber durchzusetzen. Nun hatte ich Angst vor der Schule. Und weil ich mich so überfordert fühlte, geschah es schon bald, dass ich mich in der Klasse brüllen hörte wie einst meinen Vater, worüber ich natürlich sehr erschrak.

Ich denke, dass mit dem Sozialismus etwas Ähnliches passiert ist. In dem Maße, wie er sich als Alternative zum Kapitalismus, als alles Bürgerliche und Kapitalistische ausschließenden Gegensatz dazu verstand, überlebten immer weniger Ideen aus der ursprünglichen Vielfalt sozialistischen und sozialdemokratischen Denkens und den Erfahrungen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Wie sehr sich sozialistische Gesellschaftssysteme schließlich im Wettbewerb der Systeme hinsichtlich Menschenverachtung, Ausbeutung und Unterdrückung der kapitalistischen „Alternative“ annäherten, ist ja ausreichend dokumentiert, gerade habe ich beispielsweise in Swetlana Alexijewitschs Buch Secondhandzeit darüber gelesen.

Doch immer wieder ist zu hören, dass es nach dem Untergang des Sozialismus keine Alternative mehr zum Kapitalismus gebe, weshalb er sich jetzt in seiner ganzen Raubtierhaftigkeit und Bösartigkeit zeigen und sich immer weiter ausbreiten könne. Und dass er aus diesem Grund auch niemals mehr untergehen könne.

In einem Text der Diotima-Philosophin Diana Sartori, den ich für die Onlinezeitschrift beziehungsweise-weiterdenken zusammengefasst habe, fand ich einen Vorschlag, der uns zu der Erkenntnis verhelfen könnte, dass der Kapitalismus in Wirklichkeit nicht so allumfassend ist, wie er dargestellt wird und wie wir ihn oft erleben. Sie schreibt, er fülle in Wirklichkeit nicht den ganzen Raum aus, auch wenn er ein unaufhörlicher Prozess von Ausbeutung und Privatisierung sei, in dem er das, was sich noch außerhalb seines Zugriffs befinde, weiter zu kolonisieren versuche, um auch daraus Gewinn zu ziehen. Doch parasitär kann nur etwas leben, wenn es darunter oder daneben noch etwas anderes gibt, das ausgesaugt werden kann. Feministische Studien, die Ökonomie radikal neu denken, kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Kapitalismus nur eine partielle und sekundäre Dimension der Wirtschaft sei. In ihren Büchern The End of Capitalism (as wie knew it) und A Postcapitalist Politics von J.K. Gibson-Graham schlagen die Autorinnen eine Praxis vor, um die anderen Dimensionen der Wirtschaft wahrnehmen und stärken zu können. Wir sollen uns die Frage stellen: „Wie viele Dinge meines Lebens werden wirklich vom Kapitalismus geordnet und geregelt? Und welche Teile sind es dagegen nicht und sind es auch nie gewesen?“

Als ich das ausprobierte, wurde mir schnell klar, dass es nicht darum gehen konnte, Bereiche zu finden, die unabhängig von kapitalistischer Wirtschaft sind. Wenn ich kein Auto habe und mit dem Fahrrad fahre, ist ja mein Rad trotzdem etwas, das unter kapitalistischen Bedingungen hergestellt wurde. Wenn ich meine Kleidung auf dem Flohmarkt kaufe, heißt das ja nicht, dass sie nicht auch einmal unter brutal ausbeuterischen Bedingungen in Bangladesch genäht worden ist. Und wenn ich unbezahlt Texte veröffentliche, die mir wichtig sind, brauche ich ja trotzdem einen Computer und Geld für meinen Lebensunterhalt. Aber wenn ich einen Lieblingspullover zum fünften Mal stopfe, auch wenn sich das überhaupt nicht „rechnet“, oder wenn ich eine Zucchinipflanze in meinem Garten monatelang aufpäppele, um dann vielleicht ein paar Früchte zu ernten, während Zucchini gerade im Supermarkt fast nichts kosten, wenn mir Qualität in allem mehr bedeutet als Quantität, wenn mir meine Beziehungen wichtiger sind als mein Profit, dann bewege ich mich in einer anderen Logik, die nicht vom Kapitalismus geordnet und geregelt wird.

Mit meiner Suche stehe ich erst am Anfang. Ich wünsche mir, dass sich andere auch auf die Suche nach dem machen, was außer dem Kapitalismus noch in unserem Wirtschaftsleben vorhanden und wirksam ist – und hier in den Kommentaren etwas über ihre Erfahrungen schreiben.

Böses mit Gutem überwinden?

Seit zweitausend Jahren versucht das Christentum uns einzureden, man könne Böses mit Gutem überwinden. Vielleicht wurde im Namen der christlichen Religion auch deshalb so viel Böses getan, weil diese Predigt innerhalb der eigenen Reihen als Beißhemmung gewirkt hat, so dass die Skrupellosen und Machtgierigen es leicht hatten, sich durchzusetzen. Und diese griffen dann wieder zu den Methoden, die genauso wenig gegen das Böse helfen: es mit noch mehr Bösem überwinden zu wollen. Als ich hörte, dass die evangelische Kirche in Deutschland für das kommende Jahr den Satz vom Überwinden des Bösen durch Gutes als Jahreslosung gewählt hat, bin ich so richtig wütend geworden. Ich dachte nämlich an eine fromme Freundin, die seit einem Jahr von ihren Kolleginnen gemobbt wird und es einfach nicht schafft, sich vernünftig zu wehren, notfalls auch mithilfe ihrer Vorgesetzten, trotz Therapie und vieler ermutigender Gespräche. Und ich dachte an eine andere Bekannte, die in einer solchen Situation versucht hat, die Kolleginnen zu besänftigen, indem sie für alle Kuchen mitbrachte, was mit noch mehr Häme beantwortet wurde.

Um Kuchen geht es auch in der Geschichte, mit der Christine Nöstlinger schon Kindern weismachen will, dass es hilft, jemandem etwas Gutes zu tun, der einen schlecht behandelt. In den „schönsten Geschichten vom Franz“ erzählt sie, wie Franz, einer der Kleinsten in der Klasse, von Eberhard, einem großen, dicken Jungen, ständig getriezt, herumgeschubst und gedemütigt wird. Da ihm die Ratschläge seiner Eltern und seines großen Bruders, der beinahe ebenso unfreundlich mit ihm umgeht, dem er aber immer wieder verzeiht, nicht weiterhelfen, fragt er die Studentin, die ihn nachmittags betreut, um Rat. Diese spricht Eberhard an, als die Kinder aus der Schule kommen, und tut so, als sei sie total begeistert von ihm, da er sie an ihren kleinen Bruder erinnere, (den es nicht wirklich gibt). Sie lädt ihn dann zum Kaffeetrinken ein und lässt ihn einen ganzen Pflaumenkuchen aufessen. Franz, der sich bei der Nachbarin und Mutter seiner besten Freundin darüber beklagt, bekommt von dieser Frau zum Trost deren Kuchen vorgesetzt, der sowieso noch besser schmeckt. Am nächsten Tag erklärt Eberhard in der Schule, der Franz stehe ab jetzt unter seinem besonderen Schutz, und wer ihn schlecht behandle, bekomme es mit ihm zu tun.

Ich halte es für unverantwortlich, Kindern so etwas als Problemlösung anzubieten. Und ich halte es auch für unverantwortlich, wenn die Kirche in einer Jahreslosung dazu auffordert, Böses mit Gutem zu überwinden. Mir haben gegen die diesbezügliche Beeinflussung Texte der italienischen Philosophinnengemeinschaft „Diotima“ geholfen, besonders einer, den ich für die Onlinezeitung beziehungsweise-weiterdenken übersetzt habe. In diesem Text warnt die Autorin davor, Böses mit Gutem heilen zu wollen. Denn das Böse ernähre sich von dem Guten, das man ihm anbiete. Ich glaube, dass sie damit Recht hat, viele meiner Erfahrungen und Beobachtungen sprechen jedenfalls dafür. Wenn wir uns davon befreit haben, das Böse mit Gutem überwinden zu wollen, und auch vom Gegenteil nichts halten, sind wir frei, unsere ganze Kreativität einzusetzen, um nach anderen Lösungen zu suchen. In dem genannten Artikel „Fluchen, beten, nicht fragen“ gibt es dazu schon ein paar gute Ideen.

Was politisch ist und was nicht

In ihrem neuesten Buch „Macht und Politik sind nicht dasselbe“ (Potere e politica non sono la stessa cosa) bemühen sich die Diotima-Philosophinnen um eine noch genauere Unterscheidung zwischen dem wirklich Politischen und dem Machtpolitischen. Damit wollen sie dazu beitragen, aus der Verwirrung zwischen beidem herauszukommen, die dazu führt, dass Politik immer mehr als etwas Jämmerliches, Lächerliches und Armseliges wahrgenommen wird.

Mir haben an diesem Buch vor allem die schönen Formulierungen und Bilder Freude gemacht, die die Denkerinnen aus Verona gefunden haben, um das Politische zu beschreiben. Dabei ist mir erst so richtig bewusst geworden, wie viel mir die Politik bzw. das Politischsein bedeutet.
Besonders bei Chiara Zambonis Beitrag ging mir das so. Sie schreibt: „Es ist die Welt, die mich interessiert. Die Welt aller, die uns miteinander verbindet. Wenn ich von mir spreche, spreche ich also von der Welt, von diesem besonderen Platz aus, den einzunehmen mir gegeben ist. […] Das Begehren nach Politik ist für mich ein leichtes Gepäck, das mich überall hin in meinem Leben begleitet hat und das ich mitnehmen kann, wohin ich will. Es hat keinen festgelegten und vorherbestimmten Platz. Aber wenn ich es nicht bei mir habe, fühle ich mich sehr, sehr unglücklich. […] Das Begehren nach Politik hat sich in meinem Leben ereignet, ohne dass ich es gewählt habe.“ (S. 113).

In dem, was Politik nicht ist, ist Zamboni sich einig mit ihrer „Weggefährtin“ Hannah Arendt. Sie bezieht sich beispielsweise auf deren Text „Was ist Politik?“. Arendt zufolge ist Politik etwas ganz anderes als das, was die übliche Definition davon behauptet: Eine Beziehung zwischen Regierten und Regierenden mit allen institutionellen Vermittlungen dieser Beziehung wie die Gewaltenteilung, die Repräsentation, die Formen der Kontrolle usw. Auch die Beschäftigung mit den menschlichen Bedürfnissen ist für Arendt nicht das Wesentliche der Politik. Politisch ist es dagegen, sich mit anderen auseinanderzusetzen und mit anderen zusammen zu handeln, um sinnvoll in der Welt leben zu können. Politik ist kein Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen, sie hat einen Wert in sich selbst und nicht im Hinblick auf etwas anderes (S. 115).

Für die Verstricktheit von Politik und Macht findet Chiara Zamboni ein Bild, das mir sehr einleuchtet: Es ist ein Schachbrett, auf dem gleichzeitig Schach und Dame gespielt wird. Beim Damespiel bewegt sich jede Figur frei auf dem Brett, während beim Schachspiel die Züge für die jeweiligen Figuren festgelegt sind. Die „Damen“ spielen die Politik frei und gleichzeitig in Bindung aneinander. Dagegen bewegen sich die Schachspieler in der Logik, dass sie jede Aktion, auch die der „Damen“ , so interpretieren, als handle es sich um den Zug eines Pferdes, eines Bauern oder einer Königin. Das heißt, sie interpretieren aus der Logik der Macht heraus, in der jede Figur eine bestimmte Position in der Hierarchie und nur die Handlungsmöglichkeiten hat, die dieser Position entsprechen. Die Schwierigkeit besteht also darin, dass jede Handlung einer Damespielerin von denen, die Schach spielen, als ein Zug im Schachspiel interpretiert wird. Das Politische an ihrer Handlung wird nicht von ihnen wahrgenommen. Noch schwieriger wird das Ganze dadurch, dass auch die Damespielerinnen das, was sie vor sich sehen, oft selbst nach den Kategorien des Schachspiels interpretieren. Uns allen fällt es immer wieder schwer, wahrzunehmen, dass die einzelnen Frauen und Männer, die sich in den Hierarchien der Macht aufhalten, nie ganz in den festgelegten Rollenmustern aufgehen, zu denen sie durch ihre Position genötigt werden. Genau darauf, dass sie auch noch etwas anderes sind, können wir uns aber stützen, um sie zum Dame-Spiel einzuladen (S.121/122).

Aus Luisa Muraros Beitrag nahm ich vor allem die Erkenntnis mit, dass Politik dann in Macht umkippt, wenn aufgehört wird, nach Vermittlungen zu suchen oder an besseren Vermittlungen zu arbeiten. Wer Machtmittel zur Verfügung hat, ist leichter verführbar, sich die Mühe zu ersparen, sich mit den jeweiligen anderen Beteiligten einer Situation in Beziehung zu setzen und nach Vermittlungen zu suchen, mit deren Hilfe die auftretenden Konflikte gelöst werden können, oder auch Regeln zu finden, die dabei helfen können (S. 7).

Diana Sartori bezieht sich ebenfalls auf Hannah Arendt, wenn sie schreibt, Politik sei nichts anderes als, die eigene Freiheit zu leben, und Freiheit sei die Fähigkeit aller Menschen, Neues in die Welt zu bringen, also ein Wunder. Nur dass dieses Wunder nicht außerordentlich sei. Politik sei, so formuliert Diana Sartori, „die Kunst der alltäglichen Wunder“ (S. 49).

Noch eine schöne Formulierung, was Politik ist, fand Chiara Zamboni bei Carla Lonzi: Politik werde nicht gemacht, sie ereigne sich. Politik sei dort, wo es geschehe, dass ein Stück Wahrheit ans Licht komme. Und der Bereich des Politischen sei der Ort, an dem sich die Wahrheit Raum schaffen könne (S. 114).

Diotima: Potere e politica non sono la stessa cosa. Liguori editore, Napoli 2009, 144 S., € 14,90