Zahlen und ihr Gift

Bei einem Denkwochenende sprachen wir über unseren Umgang mit Geld. Als Beispiel für ihre Schwierigkeiten, sich etwas zu gönnen, erzählte eine Frau von ihrem Einkauf in unserer Mittagspause. In einem Drogeriemarkt hatte sie auf der Suche nach etwas anderem eine hübsche, bunte Pinzette entdeckt, die genau solche Greifarme hatte, wie sie sie brauchte. Voller Freude legte sie sie in ihren Einkaufskorb. Doch als sie den Preis sah – etwa doppelt so hoch wie die billigste Pinzette im Angebot, also vielleicht 3 € statt 1,50 – war ihre Freude weg. Stattdessen überlegte sie, ob sie die Pinzette wirklich kaufen sollte, da sie ja zuhause schon mehrere hatte. Als wir über das Erzählte nachdachten, fiel uns auf, dass das „Gift“, das die Freude kaputtgemacht hatte, die Zahl war, die den Blick weg von dem schönen Gegenstand auf andere Überlegungen richtete.

Seit etwa drei Jahren besitze ich ein E-Bike. Viel Freude hat es mir bis vor ein paar Wochen nicht gemacht. Denn um mir selbst und ökologisch noch strengeren FreundInnen gegenüber den zusätzlichen Stromverbrauch zu rechtfertigen und ja nichts von meiner Fitness einzubüßen, ließ ich den Motor meistens aus oder wählte die geringste der zwölf Unterstützungsstufen ,“ECO 1″. Für den steilen Berg vor unserem Haus gönnte ich mir nur mittlere Unterstützung statt der höchsten Stufe, die mir einst bei der Probefahrt ein steiles Tal hoch so viel Spaß gemacht hatte.

Dann rutschte mir zweimal hintereinander der Fahrradcomputer aus der Hand und fiel auf den Betonboden des Fahrradschuppens. Beim ersten Mal hatte er nur einen Riss im Display, seit dem zweiten Mal ist dort nichts mehr zu erkennen außer ein paar Schatten, wenn die niedrigste Stufe eingestellt ist. Da ein neuer Computer für ein E-Bike richtig Geld kostet, bin ich froh, dass er ansonsten weiterhin funktioniert. Ob ich noch Strom habe, kann ich an den Leuchtbalken am Akku erkennen. Ob der Motor an ist, kann ich hören. Und welche Unterstützung mir gerade gut tut, kann ich spüren. Dass ich jetzt freier bin, mir diese zu gönnen, muss irgendwie damit zusammenhängen, dass ich jetzt nicht mehr von den Zahlen auf dem Display terrorisiert werde. Sie verstärkten meinen Sparwahn, brachten mich zum Vergleichen und Mich-Verbessern-Wollen. Der Bonus war, dass ich damit angeben konnte, wie viele Kilometer ich mit einer Akku-Ladung geschafft hatte.

Erst jetzt merke ich, dass ich vorher ständig auf die Zahlen auf dem Display gestarrt habe, anstatt in der Gegend herumzuschauen. Vor allem ließ ich mich von der Angabe unter Druck setzen, wie viele Kilometer ich noch mit meiner Akku-Ladung fahren kann, wenn ich mit der jeweiligen Unterstützung weiterfahre. Diese Zahl war permanent geringer als die, die ich in Wirklichkeit schaffte, was mich vor allem in der ersten Zeit sehr irritierte, aber dass sie abnahm, wenn der Motor an war, dass ich also Strom verbrauchte, ließ mich den Motor immer wieder schnell ausschalten und hielt mich auch davon ab, stärkere Unterstützungsstufen auch nur in Betracht zu ziehen.

Vor dem E-Bike hatte ich meinen Fahrradcomputer nur bei Radtouren eingesetzt. Auch damals schon waren die ständige Geschwindigkeitsangabe vor meiner Nase, die Angabe der Durchschnittsgeschwindigkeit, die Tageskilometer und die Gesamtkilometer der Tour nicht ohne Einfluss auf mich, denn sie brachten mich zum Vergleichen und weckten den Wunsch, mich zu verbessern oder auf jeden Fall nicht zu verschlechtern. Wenn ich von meiner Radtour erzählte, war oft die erste Frage der anderen, wie weit ich denn pro Tag und insgesamt gefahren sei, da wollte ich mit der Zahl der Kilometer doch auch ein bisschen angeben können. Schade fand ich es ja schon, dass ich nach meiner letzten Radtour darüber so gar nichts sagen konnte. Doch dafür hat mir das Radfahren selbst viel mehr Freude gemacht.