Meine Tageszeitung widmet heute den Vorschlägen des Runden Tisches „Heimerziehung“ eine ganze Seite. Der Hintergrundartikel trägt den Titel „Inseln des Unrechts im Rechtsstaat“. Berichtet wird auch, was der Ratsvorsitzende der EKD zu diesem „erschreckenden Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ gesagt hat. Er fand es „bedrückend und beschämend, dass auch in kirchlichen Heimen in erheblichem Maße gegen die Maßstäbe des Evangeliums gehandelt worden sei.“
Auch wenn ich froh bin, dass das Unrecht, das Kindern und Jugendlichen in Heimen angetan worden ist, nun endlich öffentlich anerkannt wird, sehe ich in dem Bild von „Inseln“ und in dem „auch in kirchlichen Heimen“ schon wieder eine Verharmlosung und befürchte, dass nicht gründlich genug darüber nachgedacht wird, wie es zu einem durch Gewalt und Arbeitszwang gekennzeichneten Erziehungsverhalten kommen konnte, das ja in den 50er und 60er Jahren nicht nur die in Heimen aufwachsenden Kinder betraf, sondern auch in den Schulen und Familien wirksam wurde.
Wie ich in meinem Buch „Lebenslänglich besser. Unser verdrängtes pietistisches Erbe“ herausgearbeitet habe, gibt es einen deutlichen historischen Zusammenhang zwischen solchen Erziehungskonzepten und dem Pietismus Hallescher Prägung, der großen Einfluss auf die evangelische Kirche, den preußischen Staat und im Weiteren auf unsere gesamte Kultur bis hin zu unserer heutigen Einstellung zur Arbeit hatte. Die ersten Heime und weitere Erziehungseinrichtungen, in denen der Zwang zum pausenlosen Arbeiten als Heilmittel gegen die sündige Natur und als Erziehungskonzept zur Tüchtigkeit verstanden und propagiert wurden, entstanden zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus der Zusammenarbeit zwischen Halleschem Pietismus und dem preußischen Staat, der den Pietismus damals zu einer Art Staatsreligion machte, die ihm auch beim Aufbau seines Militärstaats nützlich war .
Bei der jetzigen Aufarbeitung des Unrechts, das Heimkindern angetan wurde, schmerzt mich auch, dass es so spät geschieht. Die spätere RAF-Terroristin Ulrike Meinhof hat dieses Unrecht schon früh wahrgenommen und durch Veröffentlichungen darauf hingewiesen, beispielsweise in ihrem Buch „Bambule“. Die Enttäuschung darüber, dass die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen damals nichts davon wissen und schon gar nichts dagegen unternehmen wollten, hat zweifellos zur Radikalisierung Ulrike Meinhofs und ihrer Freundinnen und Freunde beigetragen, zu denen ja auch ehemalige Heiminsassen gehörten. Viel Leid hätte ihnen und den Opfern der RAF und ihren Angehörigen erspart werden können, wenn die zuständigen Institutionen damals ihrer Verantwortung entsprechend gehandelt hätten. Wer von „Inseln des Unrechts im Rechtsstaat“ spricht, tut so, als habe damals niemand etwas über das Unrecht in den Heimen gewusst oder wissen können.