Kulturverlust im öffentlichen Raum 3: Sich an Regeln halten

Seit Wochen schwanke ich hin und her, ob ich den angekündigten dritten Teil meiner Serie über Kulturverlust noch schreiben und veröffentlichen soll. Es war zwar nur ein einziger Kommentar auf Facebook, der meinen Text über den Verlust von Rücksichtnahme als „spießig“ bezeichnete, mit der Begründung, ich würde pauschalisierend und ausschließlich negativ über junge Leute schreiben. Auch wenn das nicht stimmt, erwischte mich dieses Urteil an dem Punkt, wo ich selbst unsicher bin, ob es sinnvoll ist, Beispiele für diese Art von Kulturverlust zusammenzutragen und vor den von mir befürchteten gesellschaftlich-politischen Folgen zu warnen. Sollte ich mich nicht lieber einfach so gut wie möglich anpassen an die Veränderungen, in dem Bewusstsein, dass es ja die jüngeren Generationen sind, die in dieser Welt weiterleben müssen und die ja offensichtlich nicht unter dem leiden, was ich hier als „Kulturverlust“ bezeichne, sondern ganz gut damit zurechtkommen?

Da ich aber weiterhin fast täglich etwas in der Zeitung lese, was meine Befürchtungen bestätigt, werde ich meine Serie mit diesem letzten Blogpost nun doch noch abschließen.

Heute las ich von einem Autounfall, der deshalb passierte, weil ein Fußgänger bei Rot über eine Ampel ging, worauf dem Auto, das deshalb bremsen musste, ein zweites hinten auffuhr. Der Fußgänger kümmerte sich jedoch nicht um den von ihm verursachten Unfall, er suchte schnell das Weite. Dies ist ein eher harmloses Beispiel für Folgen des Sich-nicht-an-Regeln-Haltens, es gab ja „nur“ Sachschaden, – Pech für die beiden Autofahrer. In einem anderen Zeitungsausschnitt wird berichtet, dass zwei Radler, die das Rotlicht missachteten, mit einem Auto zusammenstießen, einer verletzte sich dabei schwer. Auf jeden Fall nehmen Unfälle zu, und es wird anstrengender, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, weil es immer weniger Selbstverständliches gibt, auf das man sich verlassen kann.

Schwerwiegender finde ich es, wenn die Ohnmacht, die diejenigen empfinden, die darunter leiden, dass sich immer weniger Menschen noch an Regeln halten, dazu führen, dass sie zu gewalttätigen Maßnahmen greifen, und wenn die Stimmung im öffentlichen Raum dadurch immer unfreundlicher und aggressiver wird.

Da ich eine von denen bin, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Radfahrer mittlerweile mit großer Selbstverständlichkeit Fußgängerwege für sich beanspruchen – in den Städten, aber vor allem auch in den Wäldern, wo die Wege durch die Radfahrer bei Nässe gleichzeitig auch noch zerstört werden – ohne dass irgendetwas dagegen getan wird und ohne dass sie Argumenten dagegen zugänglich sind, war ich nicht allzu sehr überrascht, als ich vor ein paar Tagen in meiner Zeitung den Artikel „Selbstjustiz im Wald“ las (Badische Zeitung, 15.6.15), in dem zusammengetragen wird, was es schon alles an Radlerfallen im Wald gibt: abgesägte Schrauben, die aus Wurzeln herausragen, umgekippte Baumstämme, gespannte Drahtseile und richtig fest zusammengezimmerte Hindernisse, die auf den Wanderwegen, aber sogar auch auf reinen Mountainbike-Abfahrtsstrecken aufgestellt werden.

Auch das Ohnmachtsgefühl gegenüber Hundehaltern, die ihre Tiere nicht bei sich behalten (können) und sich lustig machen, wenn andere Menschen ein Problem damit haben, dass plötzlich ein fremder Hund auf sie zu gerannt kommt, kann ich gut nachvollziehen, nicht jedoch das Auslegen von Giftködern, das sich gegen die Hunde richtet, die ja schließlich nichts dafür können, wenn ihre Besitzer sich nicht an Regeln halten („Hundehasser legen Giftköder aus“, Badische Zeitung, 08.06.2015).

Natürlich sind Regeln immer übertreten worden, und auch ich habe das als junge Frau mit viel Spaß getan und mich über die aufgeregt, die darüber meckerten. Was sich aber geändert hat und warum ich von „Kulturverlust“ spreche, ist die inzwischen weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber Regeln, auch bei Menschen der mittleren Generationen. Ich denke oft, ich sei die Einzige, die beim Radfahren noch eine Richtungsänderung durch ein Handzeichen anzeigt, die wenigsten Erwachsenen tun das noch, geschweige denn die Kinder und Jugendlichen, die das ja extra bei aufwendigen Fahrrad-Übungsstunden und -prüfungen gelernt haben müssten. Mehrmals habe ich Polizisten beobachtet, die nichts unternahmen, als neben ihnen Radfahrer auf dem Gehweg fuhren oder Jugendliche mitten im dichtesten Verkehr zu zweit und zu dritt auf Rädern herumturnten, wobei sie massiv den Verkehr behinderten und sich und andere gefährdeten. Umgekehrt bewirkte noch nicht einmal die Anwesenheit von Polizei, dass die betreffenden Personen sich – zumindest kurzfristig – an die Regeln erinnerten. Ich denke, dass auch die PolizistInnen keine Lust mehr haben, sich dumme Bemerkungen, möglicherweise sogar tätliche Angriffe und ein Ohnmachtsgefühl abzuholen, wenn sie nicht gerade in einer der wenigen Verkehrskontrollen die Möglichkeit haben, ein paar kleine Geldstrafen zu verhängen, die für die meisten so lächerlich sind, dass sie keinerlei Verhaltensänderung bewirken. Früher war es eine wirkungsvolle Drohung, wenn ein Nachbar bei einer lauten Party mitten in der Nacht sagte, er werde die Polizei rufen, heute löst das allenfalls noch Schulterzucken aus.

Irgendwann kam ich mir auch dumm vor, wenn ich an Fußgängerampeln wartete, weil Kinder in der Nähe waren, während sogar Eltern mit ihren Kindern bei Rot über die Ampel gingen. Neulich sagte ich einer Jugendlichen, die mit dem Rad durch eine recht enge Fußgängerpassage fahren wollte, dass sie hier nicht fahren dürfe – sie sah es ein und wollte gerade absteigen –, da ging ihre Mutter, die hinter ihr zu Fuß unterwegs war, auf mich los und beschimpfte mich. Meiner Erfahrung nach sind es eher Angehörige der mittleren Generationen, die schnell ausfallend werden, wenn andere sie (oder ihre Kinder) zum Einhalten von Regeln auffordern. Junge Leute sagen meistens freundlich „ja, ich weiß“, kümmern sich dann aber nicht um das, was ich gesagt habe.

Zwei Gedanken habe ich noch dazu, wie es zu diesem Kulturverlust kam und warum das wirklich ein Verlust ist. Der eine Gedanke wird in einem Cartoon auf den Punkt gebracht, den ich neulich bei Facebook sah: Eine Mutter wird von einem Passanten auf einem öffentlichen Platz gefragt, warum sie ihren Kindern erlaube, auf dem Rasen zu spielen, wo das doch verboten sei. Sie antwortet: „Wegen Auschwitz“. Die anti-autoritäre Bewegung, die hierzulande eher eine Laissez-faire-Bewegung war, verstand sich in vieler Hinsicht als Antwort auf das massenhafte gedankenlose Befolgen von Vorschriften unter der Nazi-Diktatur. Kinder sollten alles selbst entscheiden und sich nichts mehr vorschreiben lassen. In der Praxis der anti-autoritären Erziehung, wie sie im englischen Summerhill gelebt wurde, wandte man sich dagegen nicht gegen Regeln generell, sie sollten nur von den Kindern selbst gefunden und kontrolliert werden. Eindrucksvoll war für mich eine Untersuchung über die Veränderungen der Beziehungen in einem Kinderladen, in dem Erwachsene sich überhaupt nicht in das Geschehen zwischen den Kindern einmischten, also nicht einmal beratend und schützend. Während sich in anderen Kindergärten in der Regel eine Hierarchie zwischen den Kindern nach dem Schema Ältere Jungen – Ältere Mädchen – Kleinere Jungen – Kleinere Mädchen herausgebildet hatte, dominierten nun die ältesten und stärksten Jungen vor den kleineren Jungen, während beide zusammen die Mädchen tyrannisierten. Regeln können helfen, dass sich eben nicht nur Körperkraft und Draufgängertum durchsetzen, sondern auch andere Qualitäten. Auch die Untersuchungen von Elinor Ostrom über Selbstorganisation beim gemeinsamen Nutzen von Ressourcen zeigen, wie wichtig hier das Erarbeiten stimmiger Regeln und die Kontrolle ihrer Einhaltung war.

Der zweite Gedanke hat mit einer Erfahrung zu tun, die ich bei einem Adventskaffee mit einer Bekannten und ihrem damals etwa vierjährigen Sohn machte. Ich sollte bei einem Brettspiel mitmachen, das der Junge gerade geschenkt bekommen und schon öfter mit seiner Mutter gespielt hatte. Es dauerte eine Weile, bis ich die Regeln kapiert hatte, was vor allem daran lag, dass Mutter und Sohn sich nicht daran hielten. Als ich die beiden darauf ansprach – ich hatte keine Lust, auf diese Weise weiterzuspielen – belehrte mich die Mutter, dass sie ihren Sohn noch zu klein dafür finde, sich an Regeln zu halten, und dass sie daher auf diese Weise mit ihm spiele. Ich war der Meinung, dass ein Kind, das angeblich zu klein für die Regeln eines Brettspiels ist, dann auch kein Brettspiel machen muss, es gibt so viele andere Spielmöglichkeiten. Und ähnlich wie mit dem Brettspiel ist es auch mit den vielen Fahrzeugen, mit denen Kinder auf den Gehwegen und manchmal auch auf Straßen herumfahren, was ihnen ohne Weiteres zugetraut wird, während sie für das Erlernen der dafür notwendigen Regeln angeblich noch zu klein sind. Solche Bobby-Car-Kinder fahren heute auch als Erwachsene noch so mit ihren Rädern auf den Gehwegen und Straßen herum, wie sie es als Kinder taten, und erwarten, dass die anderen Menschen auf sie aufpassen, wie die Erwachsenen das damals selbstverständlich getan haben. Wenn sie dafür kritisiert werden, erleben sie es als bösartigen Liebesentzug, als Verweigerung einer Rücksichtnahme, die ihnen selbstverständlich zuzustehen scheint – und reagieren entsprechend.