Kulturverlust im öffentlichen Raum 2: Rücksichtnahme

Neulich berichtete meine Zeitung in einer kleinen Notiz von einem Todesfall, der mit meinem Thema zu tun hat: Ein Radfahrer, der wahrscheinlich zu schnell und zu nah an einem Fußgänger vorbeifuhr, stürzte, weil dieser den Ellbogen herausstreckte, ob mit Absicht oder aus Versehen, erfahren wir nicht. Der Radfahrer stand schnell wieder auf und schlug den Fußgänger ins Gesicht. Dieser fiel dadurch so unglücklich hin, dass er an den Folgen seiner Verletzungen starb.

Diese Nachricht jagte mir einen ziemlichen Schrecken ein. Denn schon oft, wenn ich mal wieder zu Tode erschrocken war, weil ein Radfahrer in rasendem Tempo und so dicht an mir vorbeifuhr, dass er mich fast berührte, half mir gegen meine ohnmächtige Wut die Phantasie, dass ich ihn nur leicht anstupsen müsste, damit er von seinem hohen Ross herunterfällt (und sich ordentlich weh tut dabei).

Beide Beispiele zeigen, wie die Unfallgefahr und die Gewaltbereitschaft durch fehlende Rücksichtnahme potentiell steigen – bei mir Letzteres zum Glück nur in der Phantasie.

Man könnte auch eine falsche Verkehrspolitik dafür verantwortlich machen, dass so etwas passiert und dass Fahrradunfälle in letzter Zeit sprunghaft zugenommen haben. Denn damit der Autoverkehr nicht beeinträchtigt wird und um den RadfahrerInnen mehr Sicherheit zu bieten, müssen FußgängerInnen sich ihre Wege immer öfter mit RadlerInnen teilen, oft auch dann, wenn es offiziell – wie bei Wanderwegen – immer noch reine Fußgängerwege sind. Zusammen mit der Rücksichtnahme ging nämlich auch die Bereitschaft verloren, sich an Regeln zu halten. Seither ist das Bummeln in der Stadt und das Wandern in stadtnahen Wäldern leider keine Erholung mehr. Man könnte auch von einer umfangreichen Enteignung der zu Fuß Gehenden im öffentlichen Raum sprechen.

Als Radfahrerin bin ich natürlich froh, wenn ich nicht auf der Straße fahren muss. Bei einer Radtour in Schleswig Holstein fiel mir auf, dass RadfahrerInnen generell in den Ortschaften auf den Gehwegen fahren durften, weil die Radwege dann immer aufhörten. Es war deutlich, dass das den dort lebenden Menschen nicht gefiel, auch wenn ich sehr rücksichtsvoll war und meistens abstieg, wenn mir Menschen entgegen kamen. Politische Entscheidungen für gemeinsame Fuß- und Radwege setzen voraus, dass die Stärkeren – und das sind in diesem Fall die RadlerInnen – auf die Schwächeren Rücksicht nehmen, dass sie also bremsen und notfalls auch mal absteigen, anstatt die FußgängerInnen durch lautes Klingeln bei unverminderter Geschwindigkeit zu einem Sprung auf die Seite zu zwingen, was jedes Mal mit einem ziemlichen Schrecken verbunden ist. Eine Verkehrspolitik, die gemeinsame Fuß- und Radwege favorisiert, macht den Fehler, von einer noch vorhandenen Kultur der Rücksichtnahme auszugehen, denn nur damit kann das funktionieren. Ohne eine Kultur der Rücksichtnahme sind gemeinsame Rad- und Fußwege vor allem für ältere FußgängerInnen kaum noch gefahrlos begehbar.

Mit dem Verlorengehen der Fähigkeit und der Bereitschaft zur Rücksichtnahme hat es auch zu tun, dass FußgängerInnen nur noch selten ausweichen, wenn ihnen andere FußgängerInnen entgegenkommen. Hier könnte man auch von einer Kulturveränderung sprechen. Denn an die Stelle von Höflichkeit und Rücksichtnahme ist das Ideal der Coolness getreten, und das bedeutet, sich durch nichts und niemand vom eigenen Weg abbringen zu lassen, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen und einfach nur stur sein Ding zu machen. Auszuweichen oder auch nur die Geschwindigkeit zu reduzieren, würde bedeuten, Verlierer und Opfer zu sein, und das muss unbedingt vermieden werden. Inzwischen habe ich festgestellt, dass es nicht schwer zu erlernen ist, sich auf diese Weise durchzusetzen. Irgendwann hatte auch ich genug davon, von den Entgegenkommenden oder kurz vor mir meinen Weg Kreuzenden einfach weggedrängt zu werden wie von Panzern und ständig in Schlangenlinien um die mir entgegen Kommenden herumlaufen oder gar auf die Straße ausweichen zu müssen. Wenn auch ich mir das Ausweichen abgewöhne, wird jede Begegnung zu einem kleinen Machtkampf darüber, wer den oder die andere zum Ausweichen zwingt. Wenn ich mich stark fühle, kann mir das sogar hin und wieder Spaß machen, doch meistens ist es unerfreulich und anstrengend. Und da es nicht leicht fällt, vom Kampf- in den Rücksichtnahmemodus umzuschalten, erschrecke ich dann plötzlich über mein eigenes rücksichtsloses Verhalten. Immer öfter kommt es auch zu schmerzhaften Rempeleien oder zu Situationen, die schnell in Gewalt umschlagen können.

Dass Eltern damit aufhörten, ihren Kindern Rücksichtnahme beizubringen, beobachtete ich schon vor mehr als zwanzig Jahren in meiner damaligen Nachbarschaft. Auch in der Schule war diese Veränderung nicht zu übersehen. Natürlich musste das Erziehungsmodell, mit dem meine Generation aufgewachsen ist, durch ein anderes abgelöst werden, bei dem die Würde und körperliche Unversehrtheit von Kindern respektiert und bei dem sie vor Ausbeutung geschützt werden. Doch nun kippte das vielfach in das andere Extrem, „Kinder an die Macht“ war ein Slogan dieser Zeit. In der Folge konnte ich beobachten, wie Eltern, vor allem Mütter, zu einer Art Bediensteter ihrer Kinder wurden, während früher wir Kinder den Eltern zu Diensten sein mussten. Selbstbestimmung war von den 70er Jahren an das höchste Erziehungsziel, das Wahrnehmen und Respektieren der Bedürfnisse anderer wurde dagegen immer weniger eingeübt. Als kinderfeindlich beschimpft zu werden, riskierten schließlich alle, die den Kindern vermitteln wollten, dass sie nicht allein auf der Welt sind, dass es Ruhezeiten gibt, dass sie zwar auf den Gehwegen mit ihren Kinderrädern fahren dürfen, aber dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie laut klingelnd die FußgängerInnen verscheuchen. Oft wurde ich von Müttern angegriffen, wenn ich die Kinder freundlich um mehr Rücksichtnahme auf dem Gehweg oder darum bat, mit irgendeinem Lärm aufzuhören, z.B. als ein Kind immer wieder gegen die Metall-Einzäunung des Kinderspielplatzes unter meinem Fenster schlug, weil das so schön laut dröhnte. Man könne den Kindern doch nicht alles verbieten, war hier das Argument der Mutter. Auch neulich habe ich es im Zug wieder erlebt, dass die Eltern ihre das ganze Abteil beschallenden Kinder auch noch bestärkten, sich von der Alten ja nichts sagen zu lassen. Wenn ich es mit Kindern allein zu tun habe, ist es meistens nicht schwierig, ihnen achtsameres Verhalten beizubringen. So fiel mir in der Schule beispielsweise auf, dass einige Kinder einfach nicht wussten, wozu Türklinken da sind, sondern nur gelernt hatten, Türen lautstark zuzudonnern. Manche Kinder wussten nicht, wie Leise-Reden oder gar Flüstern geht, und wir hatten viel Spaß dabei, dies spielerisch auszuprobieren.

Ich sehe einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verlust von Rücksichtnahme und der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihren Kindern auch mal um des guten Zusammenlebens mit anderen willen Grenzen zu setzen. Wo Eltern ihren Kindern soweit irgend möglich die Führung überlassen – manche meiner Bekannten fragen ihre Kinder richtiggehend um Erlaubnis, wenn sie mal weggehen oder bei einem Kaffeeplausch etwas länger bleiben wollen – , würde das ja wahrscheinlich auch zu Konflikten führen, und um diese auszutragen, fehlt es in vielen Familien an Zeit und Kraft, da die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ohne totale Überforderung ja, wie inzwischen allgemein bekannt ist, ein neokapitalistisches Märchen ist. Konflikte durchzustehen kostet Kraft. Wenn ich müde bin, lasse ich auch alles lieber laufen.

Rücksichtnahme ist unbequem, sie macht Mühe. Es ist in Bus und Bahn bequemer, wenn der Platz neben einem leer ist, als zu zweit nebeneinander zu sitzen. Deshalb ist es inzwischen üblich, die Tasche neben sich zu stellen oder im Zug den Koffer. Da vor allem ältere Menschen sich scheuen, anderen Mühe zu machen, indem sie darum bitten, Tasche oder Koffer anders unterzubringen, was oft nur sehr widerwillig geschieht, stehen sie dann lieber. Auch ein überfüllter Bus oder Zug führt meiner Beobachtung nach nicht dazu, dass die mit Taschen belegten Plätze von sich aus frei gemacht werden.

Es macht auch Mühe, das Gepäck im Zug so unterzubringen, dass es die durch den Gang Gehenden nicht behindert. Also lässt man es „erst mal“ stehen und schaut ungerührt zu, wie die anderen Menschen sich vorbeiquetschen oder ihre Koffer hochheben müssen, um über das Hindernis zu kommen. Es macht auch Mühe, den Müll, der sich bei einer längeren Zugreise angesammelt hat, in den Flur in die entsprechenden Müllbehälter zu bringen. Schließlich gibt es ja dafür Personal. Da mich der Müll stört, bin ich es inzwischen gewöhnt, zuerst meinen Platz im Zug aufräumen zu müssen. Mühe würde es auch machen, kleinen Kindern die Schuhe auszuziehen, bevor man ihnen erlaubt, auf die Sitze zu steigen, um besser hinausschauen zu können. Da kleinen Kindern schon lange von vielen Erwachsenen erlaubt wird, mit ihren Straßenschuhen auf die Sitze zu klettern – es sind ja nur Kinderschuhe! –, ist es nicht verwunderlich, dass auch Jugendliche und manchmal sogar Erwachsene ihre Schuhe an den Polstern der gegenüberliegenden Sitze aufstellen. Schließlich sitzt man so bequemer.

Dass Rücksichtslosigkeit und Bequemlichkeit zusammenhängen, fiel mir eines Tages an den Fahrradständern auf. Auch wenn das eigene Rad einen Fahrradständer hat, wird der nicht ausgeklappt, sondern das Rad einfach an den Fahrradbügel angelehnt. Dadurch kippt es dann gegen das Rad gegenüber und verheddert sich mit ihm, so dass es für die andere Person mehr Mühe macht, ihr Rad wieder freizukriegen. Diese Art von Bequemlichkeit hat auch mit der Gleichgültigkeit und Wegwerfmentalität gegenüber Dingen zu tun, da das Pflegen und Erhalten von Dingen nicht eingeübt wurde.

So ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die es selbstverständlich findet, dass die anderen Menschen sich in erster Linie um ihr Wohl und ihre Bequemlichkeit kümmern, dass Eltern sich beispielsweise vor ihnen abstrampeln, während sie als kleine Paschas und Prinzessinnen bequem im Fahrradwagen sitzen. Leider hat die Dominanz der Richtung der Frauenbewegung, die sich eine Verbesserung ihrer Lebensumstände durch die Angleichung an das männliche Modell erhoffte, auch dazu geführt, dass der Benachteiligung, die viele Frauen meiner Generation darin sahen, dass sie ihren Müttern im Haushalt helfen mussten und ihre Brüder nicht, damit entgegengearbeitet wurde, dass die Mädchenerziehung an die Jungenerziehung angeglichen wurde, anstatt umgekehrt Jungen ebenfalls früh zur Mitarbeit anzuregen. Hierbei wäre natürlich auch ein väterliches Vorbildverhalten hilfreich gewesen.

Mit meiner Kritik an der fehlenden Erziehung zur Rücksichtnahme möchte ich keineswegs idealisieren, wie ich selbst aufgewachsen bin. Während heute eher erwartet wird, dass man Kinder beim In-der-Schlange-Stehen vorlässt – wodurch sie m.E. auch wieder etwas Falsches lernen, nämlich, dass Regeln für sie nicht gelten – musste ich als Kind im Laden oft länger warten, mit dem Argument, Kinder hätten jüngere Beine. Wenn ich im Weg stand, wurde ich nicht etwa gebeten, den Weg freizumachen, sondern wurde angeschrien und als rücksichtsloser „Stoffel“ beschimpft. Als „Stoffel“ wurden vor allem Menschen bezeichnet, die andere durch Gedankenlosigkeit unnötig behinderten. Ich murmle dieses Wort manchmal, wenn direkt vor mir jemand die Seite wechselt, so dass ich abrupt anhalten muss, mir die Tür ins Gesicht fallen lässt oder oben an der Rolltreppe mit Trolley stehenbleibt, so dass die Hochkommenden nicht von der Rolltreppe runter können. Auch wenn jemand einsteigt, bevor alle ausgestiegen sind oder sich beim Einsteigen oder beim Anstehen vordrängelt, fällt mir dieses Schimpfwort ein. Es war früher selbstverständlich, dass Kinder ihren Platz in vollen Zügen und Bussen hergeben oder sich zumindest einen Platz teilen mussten. Kein Kind hätte sich geweigert, für Ältere, Behinderte, für schwangere Frauen oder Frauen mit kleinen Kindern sofort aufzustehen. Dafür sorgte eine sehr moralische Erziehung, die letztlich mit Prügeln unterstrichen wurde. Während Kinder heute keine Verlierer sein wollen, wollten wir keine unhöflichen „Stoffel“ sein. Diese wurden kollektiv verachtet.

Ich bin aber sicher, dass Rücksichtnahme auch auf freundliche Weise und ohne Abwertungen gelehrt werden kann, doch dies erfordert Zeit, Geduld und Mühe. Um sich in der Familie diese Mühe und die damit verbundenen Konflikte zu ersparen, wird die Erziehung zu sozialem Verhalten auf Kindergarten und Schule verschoben. Professionelle PädagogInnen sollen sie leisten, Erzieherinnen in der Kita, Lehrkräfte in den Schulen. Doch die sind überfordert, all das Versäumte nachzuholen, bei viel zu vielen Kindern gleichzeitig. Bei dem Lärm von so vielen Kindern, die nicht wissen, wie Leise-Reden geht, weil nie jemand mit ihnen Flüstern geübt hat, können sie sich selbst oft auch nur durch Schreien Gehör verschaffen, sind also nicht unbedingt Vorbild für freundliches, friedliches, ruhiges Zusammenleben.

Ich kann nicht darüber hinwegsehen, dass für das Verlorengehen von Rücksichtnahme im öffentlichen Raum und ihre Folgen neben der Verschlechterung des gesamtgesellschaftlichen Klimas durch Sozialabbau und Wettbewerbsdruck auch falsche Weichenstellungen der Frauenbewegung verantwortlich sind. Und da meine Kritik daran nicht laut genug war – sie beschränkte sich auf Äußerungen in Vorträgen und Büchern mit geringer Auflage –, kann auch ich mich nicht ganz von der Verantwortung dafür frei sprechen.

Zum einen wurden „ritterliches“ und „Gentleman“-Verhalten abgelehnt, weil es als Heuchelei erlebt wurde und außerdem eine Vorstellung von Frauen als Schwache und Hilfsbedürftige unterstrich, das mit der Realität dessen, was viele von ihnen täglich leisten mussten, nichts zu tun hatte. Im Emanzipations- und Gleichstellungsdenken mussten die Frauen ja zeigen, dass sie in allem genauso (gut, stark, klug) waren wie Männer, dass sie also ihren Koffer selbst ins Gepäcknetz heben und ihre Reifen selbst wechseln konnten. Hilfsbereite Männer mussten nun damit rechnen, eine unfreundliche Abfuhr zu bekommen. Hätten wir Feministinnen damals erkannt und offensiv vertreten, dass Gentleman-Verhalten eine kostbare zivilisatorische Leistung war, ein Stück männliche „Anpassung“ an traditionell Frauen zugeschriebene Verhaltensweisen, die das Zusammenleben für alle schöner und leichter machten, hätten diese Verhaltensweisen von der Geschlechterfestlegung befreit und weiter erhalten bleiben können. Ich helfe gern anderen in den Mantel, auch Männern, und halte gern Türen auf.

Die andere falsche Weichenstellung habe ich schon erwähnt, die Anpassung der Mädchenerziehung an die ehemalige Jungenerziehung. In Kinderbüchern und Kindersendungen im Fernsehen, aber auch in hochgelobten Filmen für Erwachsene wurden nun die „bösen Mädchen, die überall hinkommen“ als Vorbild hingestellt. Mit fragwürdigem Erfolg: Auch wenn die weibliche Kriminalitätsrate immer noch viel niedriger ist als die männliche, ist sie in den letzten Jahrzehnten doch deutlich gestiegen. Wäre stattdessen die Jungenerziehung an die ehemalige Mädchenerziehung angepasst worden, indem auch sie zu achtsamem Verhalten gegenüber Menschen und Dingen angehalten worden wären, wozu Mithilfe bei der Haus- und Familienarbeit ein gutes Übungsfeld ist, wäre unser heutiges Zusammenleben im öffentlichen Raum wohl friedlicher und freundlicher. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den vollständigen Verlust der Kultur der Rücksichtnahme noch zu verhindern.

Warum denn dieses große Wort „Kulturverlust“?

Die Diskussion über meine bisherigen Blogposts zum Thema „Kulturverlust im öffentlichen Raum“ fand leider nicht hier, sondern hauptsächlich auf Facebook und in persönlichen Gesprächen statt. Während inhaltlich viel Zustimmung und auch wichtige Ergänzungen kamen (siehe meine zusammenfassenden Kommentare zu den letzten beiden Blogposts), wurde mehrmals die Frage gestellt, warum ich von „Kulturverlust“ spreche. Man könne es doch auch als „Kulturveränderung“ bezeichnen, wenn im öffentlichen Raum beispielsweise nicht mehr gegrüßt und keine Rücksicht mehr aufeinander genommen würde. Auch sei „Kulturverlust“ so ein großes Wort. Ich antwortete, es sei natürlich Absicht, dass ich dieses „große“ Wort „Kulturverlust“ gerade auch für den Verlust von scheinbar so unbedeutenden kulturellen Errungenschaften wie dem Grüßen verwende. Von Kulturverlust spreche ich dann, wenn bestimmte Verhaltensweisen, die über viele Generationen tradiert worden sind, nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben werden, weil man sich dagegen entscheidet oder das zu mühsam findet. In diesem Sinne wäre Nicht-Grüßen, weil man es nicht gelernt hat, keine andere Kultur, sondern eine verloren gegangene Kultur.

Mehrmals wurde auch darauf hingewiesen, dass diese Kulturvermittlung ja auch mit sehr viel Zwang stattgefunden hatte, und dass der Abschied von auf diese Art vermittelten sozialen Verhaltensweisen auch als Befreiung empfunden werde, als eine Veränderung, die es heute neu und positiv mit zu gestalten gelte. Eine Kommentatorin hielt es jedoch für problematisch, dass bei dem Veränderungsprozess die Kritik am Alten lange im Vordergrund stand, während der Aufbau von etwas Neuem vernachlässigt wurde.

Eigentlich hatte meine Entscheidung, meine Beobachtungen und Erlebnisse unter dem Begriff „Kulturverlust“ zusammenzufassen, aber noch einen anderen Hintergrund. Es sollte mein Diskussionsbeitrag in der Auseinandersetzung mit PEGIDA sein, einer plötzlich auftretenden, erschreckend großen Bewegung vor allem in Großstädten der ehemaligen DDR, die vorgab, die europäische KULTUR, die „Kultur des Abendlandes“ gegen eine Überfremdung durch außereuropäische Einflüsse beschützen zu wollen. Inzwischen ist deutlich geworden, wie stark diese Bewegung von Nazis beeinflusst, manipuliert und vielleicht sogar initiiert wurde, was ja auch von Anfang an durch Begriffe wie „Lügenpresse“ und menschenverachtende Äußerungen über MigrantInnen und AsylantInnen zu erkennen war. Trotzdem wollte ich mich der Anti-Pegida-Bewegung nicht anschließen, die ihrerseits die PEGIDA-DemonstrantInnen als dumm abqualifizierte, sich über sie lustig machte und forderte, sich von SympathisantInnen dieser Bewegung im eigenen Umfeld loszusagen. Ich hab was gegen Frontenbildung in jeder Form. Trotz offensichtlicher Nazi-Unterwanderung interessierte mich, was so viele Menschen dazu brachte, bei solchen Demonstrationen mitzumachen. Und mir fiel dazu eine Erfahrung ein, die ich vor einigen Jahren in einem Regionalzug zwischen Leipzig und Chemnitz gemacht hatte:

Obwohl der Zug sehr voll war, war es im Wagen ruhig. Die Menschen unterhielten sich leise, schliefen, viele lasen. Das Gepäck wurde nicht auf Nebensitze gestellt oder im Gang stehen gelassen, sondern in die Gepäcknetze gehoben, wobei junge Männer manchmal halfen. Niemand stellte die Schuhe am Polster des gegenüberliegenden Sitzes auf oder warf einfach den eigenen Müll auf den Boden, der Wagen wirkte auch längst nicht so verwahrlost, wie dies oft bei Regionalzügen im Westen der Fall ist. Ich schaute mich im Wagen um und stellte fest, dass offensichtlich nur Deutsche mitfuhren. Für einen Moment brachte ich beides in einen Zusammenhang: Ein angenehmes Miteinander im öffentlichen Raum und keine Menschen aus anderen Ländern. Könnte es nicht sein, dass die PEGIDA-Demonstranten einen ähnlichen Denkfehler machen? Dass sie die mangelnde Rücksichtnahme im Zusammenleben, die sie im Westen oder bei Zuwanderern aus dem Westen erleben, das, was ich hier unter dem Stichwort „Kulturverlust“ beschreibe, mit der Anwesenheit von MigrantInnen erklären, obwohl das eine mit dem anderen nichts zu tun hat? Denn wie ich im letzten Sommer bei einer Radtour in den östlichen Bundesländern beobachten konnte, ist der Kulturverlust hinsichtlich eines guten Zusammenlebens im öffentlichen Raum dort noch weit weniger verbreitet. Schließlich begann das Nicht-Mehr-Weitergeben bestimmter sozialer Errungenschaften wie Rücksichtnahme und Sich-an-Regeln-Halten im Westen schon mit der antiautoritären Bewegung, (bei der ich selbst aktiv mitmachte!), also Ende der Sechzigerjahre, während im Osten auch nach der Wende noch lange an bestimmten sozialen Verhaltensweisen festgehalten wurde, die sich dort im Zusammenhang mit dem Sozialismus herausgebildet hatten und die zweifellos auch mit viel moralischem Druck von einer Generation an die nächste weitergegeben worden waren. Wie ich letzten Sommer feststellte, sind diese gemeinschaftsorientierten Verhaltensweisen wohl dauerhafter als äußere Einflüsse, die kapitalistische Wirtschaft, der Einfluss der aus dem Westen Zugezogenen und das, was – vor allem in Kindersendungen des Fernsehens und in vielen Filmen – an antisozialem Verhalten propagiert wird, mit dem angeblichen Ziel, Freiheit und Selbstbestimmung der Kinder zu fördern.

Bemerkenswert an den PEGIDA-Demonstrationen finde ich übrigens auch die in der Aussage „Wir sind das Volk“ zum Ausdruck kommende Vorstellung von Demokratie, die ja nichts mit dem parlamentarischen System zu tun hat, das wir in Deutschland haben, wo zahlreiche Hürden aufgebaut worden sind, die einen direkten Einfluss des „Volkes“ unmöglich machen. (In der Schweiz sind diese Hürden niedriger, was ja wohl eine zweischneidige Sache ist, wenn man an die Abstimmung „gegen Masseneinwanderung“ denkt). Der Gedanke, wenn „das Volk“ in den östlichen Bundesländern entscheide, dass es nicht mit MigrantInnen zusammenleben wolle, müsse das von den Regierenden akzeptiert werden, führte mich zu der Frage, ob denn „das Volk“ im Westen von den Sechzigerjahren an gewählt hat, mit den Menschen aus anderen Ländern, die zunächst als Gastarbeiter kamen, zusammenzuleben. Und das würde ich eindeutig verneinen. Es war eine Entscheidung der Wirtschaft, diese Menschen ins Land zu holen, und „das Volk“ musste lernen, sich damit zu arrangieren. An vielen Stellen geschah das äußerst widerwillig, was den Zuwanderern das Leben hier nicht gerade erleichterte.

Was mich bei den riesigen Anti-Pegida-Demonstrationen wirklich gefreut hat, waren die positiven Aussagen zum Zusammenleben mit Menschen aus vielen unterschiedlichen Kulturen. Beispielsweise gab es in meiner Zeitung eine große Anzeige der Freiburger Universitätsklinik mit einer Weltkarte, auf der die 118 Länder markiert waren, aus denen die Mitarbeitenden dieser Klinik kommen. Hier ist in den westlichen Bundesländern eine wirklich großartige kulturelle Leistung vollbracht worden, und zwar nicht von staatlicher Seite, sondern eben genau vom „Volk“, von den sogenannten kleinen Leuten: an den Arbeitsplätzen, in der Nachbarschaft, in Kindergärten und Schulen, in kirchlichen Einrichtungen, in Vereinen, mit sehr viel, wahrscheinlich sogar überwiegend ehrenamtlicher Arbeit, vor allem auch von Frauen. Ich weiß noch, wie mühsam es für mich als Grund- und Hauptschullehrerin war, ohne Reduzierung der Klassengröße oder die Gewährung von Zusatzstunden mit Klassen von Kindern zu arbeiten, die aus ca. 13 Nationen kamen und oft noch kaum Deutsch konnten. Das war nur möglich durch viel zusätzliche „Freiwilligenarbeit“, beispielsweise zahlreiche Elternbesuche. Und heute ist es ja bei der „Willkommenskultur“ für Asylanten nicht anders. Es sind Kreise von ehrenamtlichen HelferInnen, die die Integrationsarbeit leisten, während staatliche Stellen ihnen manchmal eher noch in den Rücken fallen. Und nach wie vor soll der Deutschunterricht für die MigrantInnen am liebsten als Gratisarbeit geleistet werden.

Bei einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Anliegen der PEGIDA-DemonstrantInnen, die die Menschen, die sich dieser Bewegung angeschlossen haben, nicht von Vornherein als rassistisch diffamiert, könnte der Denkfehler, der von ihnen vielleicht als Unbehagen erlebte Kulturverlust im öffentlichen Raum sei eine Folge der Migration, bei einigen von ihnen vielleicht aufgelöst werden. Und auch die Erinnerung an die mangelnde Begeisterung, mit der die MigrantInnen damals im Westen empfangen wurden, könnte helfen, sich auf ein Gespräch mit ihnen einzulassen, in dem die Rollen nicht von Vornherein in Gut und Böse festgelegt sind.

 

Kulturverlust im öffentlichen Raum 1: Grüßen

Während Begrüßungen unter FreundInnen und Verwandten in den letzten 15 bis 20 Jahren herzlicher geworden sind – hier sind erfreulicherweise inzwischen Umarmungen oder zumindest Luft- oder Wangenküsse üblich – ist die Kultur, einander auch dann zu grüßen, wenn man sich kaum oder gar nicht persönlich kennt, immer mehr am Schwinden. In den Städten liegt das natürlich daran, dass es einfach zu viele Menschen sind, denen wir auf unseren Wegen begegnen, doch auch dort wäre es durchaus möglich, die Menschen zu grüßen, denen wir öfter begegnen, z.B. im Haus, in der Nachbarschaft oder an der Bushaltestelle, oder ihnen zumindest zuzunicken oder zuzulächeln. Gerade wenn ich fremden Menschen, weil es sehr voll ist, körperlich näher kommen muss, als es meinem Bedürfnis entspricht, beispielsweise in einem Bus oder auch im Kino, ertrage ich das sofort leichter, wenn ich mit „Hallo“ oder ein paar Worten Kontakt gemacht habe, und dann reagiere ich auch bei Drängelei und Rempeleien eher mit Humor als mit Aggression.

In meinem kleinen Dorf konnte ich in den letzten 15 Jahren zuschauen, wie die Kultur des Einander-Grüßens verlorenging. Während ich erfreut und überrascht war, dass so gut wie alle Menschen einander grüßten, als ich in dieses Dorf zog, sind es inzwischen immer mehr Bewohner, vor allem in den Neubauvierteln, die diesen Brauch nicht mehr übernommen haben. Und im ganzen Dorf sind es vor allem die Kinder, die nicht mehr gelernt haben, wie Grüßen geht. Sie reagieren befremdet und ratlos, wenn ich sie grüße, weil sie gar nicht wissen, was sie damit machen sollen. Wenn ich mit Eltern aus der Nachbarschaft manchmal ein paar Worte wechsle, stehen die Kinder daneben, als gehe es sie nichts an, was die Erwachsenen da tun. Und ich habe nicht den Eindruck, dass sie sich wohl dabei fühlen.

Mit dem Grüßen bekunde ich ein wohlwollendes Wahrnehmen anderer Menschen. Wenn Menschen einander grüßen, zeigen sie, dass sie aufeinander achten, dass sie einander achten. Wo ich gegrüßt werde, fühle ich mich mehr zuhause als dort, wo Menschen einander ignorieren, und ich habe auch ein größeres Sicherheitsgefühl. Das Grüßen ist eine Hilfe, um die Scheu zu überwinden, mit anderen in Kontakt zu treten, ein einfaches und niederschwelliges Kontakteröffnungsritual. Nach Wikipedia geht das Verb „grüßen“ auf das westgermanische „grotjan“ zurück, das „zum Reden bringen, sprechen machen“ bedeutet. Das gefällt mir sehr gut, denn es ist wohl das Wichtigste am Grüßen, dass es nach einem Gruß leichter fällt, miteinander zu sprechen. Bei neuen Nachbarn, die nicht grüßen und auch deutlich signalisieren, dass sie das nicht wollen, ist es viel schwieriger, auch einmal etwas anzusprechen, was unter Nachbarn halt geregelt werden muss, um Hilfe zu bitten oder gar einen Konflikt anzugehen.

Wo es möglich ist, miteinander zu sprechen, ist es zudem wahrscheinlicher, dass wir Konflikte ohne Gewalt lösen können. Denn Gewalt – so Hannah Arendt – „ist eigentlich die einzige Art menschlichen Handelns, die definitionsgemäß stumm ist; sie wird weder durch Worte vermittelt, noch arbeitet sie mit Worten. Bei allen anderen Arten politischer oder nicht-politischer Tätigkeit handeln wir in der Sprache, und unser Reden ist Handeln“ (H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 315). Hierzu fallen mir zwei Beispiele ein: Als ich letzten Sommer einen Termin bei einer Physiotherapeutin hatte und spät dran war, machte ich mein Rad an einer Stange vor deren Nachbarhaus fest, weil ich auf die Schnelle nichts anderes fand, wo ich mein Rad anschließen konnte. Eine Stunde später sah ich, dass jemand an meinem Rad die Luft herausgelassen hatte, auch die Ventildeckel waren weg. Ich war ziemlich sicher, dass hier die Nachbarn „gesprochen“ hatten, die sich wahrscheinlich schon öfter geärgert hatten, dass vor der Praxis kein eigener Fahrradbügel zur Verfügung gestellt wurde. Das zweite Beispiel stand vor Kurzem in der Zeitung: Nachdem es geschneit hatte, malte eine junge Frau mit dem Finger Herzen in den Schnee auf die Autodächer, an denen sie vorbei kam. Ohne etwas zu sagen, kam ein Mann auf sie zu und schlug sie.

Natürlich kann auch das Grüßen wie wohl jede kulturelle Errungenschaft für anderes genutzt werden als dafür, den Menschen das Zusammenleben zu erleichtern. Ich denke dabei nicht nur an den Zwang in totalitären Staaten, auf eine bestimmte Weise zu grüßen, um sich mit dieser Staatsform oder ihrem Führer einverstanden zu erklären, sondern auch an die Bedeutung des Grüßens, um Hierarchien zu bestätigen. Als Kind bekam ich großen Ärger, als ich einmal meinen Klassenlehrer auf der Straße nicht grüßte, weil ich der Meinung war, das sei nicht notwendig, da ich ihn kurz zuvor in der Schule schon gegrüßt hatte. Im Rahmen einer Prügelerziehung war natürlich auch das Erlernen des Grüßens mit Zwang verbunden. Andere zu grüßen war in diesem Kontext kein freies Geschenk mehr, kein freiwilliges Zum-Ausdruck-Bringen von Wohlwollen und Wertschätzung, sondern hier war streng geregelt, wer wen zuerst und auf welche Weise grüßen musste, wie früher an den Fürstenhöfen und dann beim Militär. Um die Unterwerfung oder die Überhöhung des zu Grüßenden zu verstärken, lernten Jungen, eine Verbeugung – einen „Diener“ – zu machen, Mädchen verkleinerten sich durch einen „Knicks“. Wahrscheinlich ist auch der Gruß „Grüß (dich) Gott“ eine Form, sich selbst klein zu machen, im Sinne von: „Mein Gruß ist nichts wert, aber ich wünsche dir, dass Gott dich stattdessen grüßt“.

Wo das Grüßen erzwungen und streng geregelt wurde, verkam es zu einer toten Form. Sicher ist das der Grund, warum etwa von 1968 an offensichtlich immer mehr Eltern entschieden haben, es ihren Kindern nicht mehr beizubringen. Dabei verschwand zwar das formale, inhaltsleere und erzwungene Grüßen, doch gleichzeitig leider auch das, was an dieser Kultur sinnvoll und erhaltenswert war.

Wenn im öffentlichen Raum immer weniger gegrüßt wird, wird der Gegensatz zwischen Fülle, Wärme und Glück im Privaten und der Kargheit im öffentlichen Raum größer. Das trifft vor allem die Menschen, die allein leben, die vielleicht auch keine Arbeit haben oder die in ihren privaten Beziehungen unglücklich sind. Sie erleben schließlich nirgends mehr, dass sie von anderen wahrgenommen werden, dass ihnen Wohlwollen entgegengebracht wird, dass sie geachtet sind und dazugehören.

 

 

Kulturverlust

Ich wohne in einem kleinen Dorf in Großstadtnähe, mit einem dörflich-konservativen Kern und vorstadtähnlichen Siedlungen drum herum. Als wir vor 15 Jahren hierherzogen, fiel mir sofort positiv auf, dass die Menschen sich noch fast alle grüßten. Inzwischen tun das nur noch die älteren Leute. Die nach uns Zugezogenen haben diese Form niederschwelliger Kontaktaufnahme nicht mehr übernommen, und den meisten in dieser Zeit großgewordenen Kindern wurde sie nicht mehr beigebracht, auch nicht von den Eltern, die nach wie vor selbst grüßen. (Damit Kinder das Grüßen lernen, müssen sie sehr oft dazu aufgefordert werden, was ziemlich mühsam ist). Während die Menschen in unserer Straße sich zu Beginn noch alle mit Namen kannten und Neuzugezogene sich den anderen vorstellten, habe ich heute mit einigen noch kein Wort gewechselt und weiß noch nicht einmal die Namen der inzwischen geborenen Kinder. Für mich ist das ein Beispiel für Kulturverlust im öffentlichen Raum, denn Grüßen und Sich-Vorstellen in der Nachbarschaft macht das Zusammenleben leichter und erfreulicher und erhöht damit das Wohlbefinden im Wohnungsumfeld. Bei meinen in den letzten Jahren dazugekommenen Nachbarn – überwiegend jungen Familien – habe ich den Eindruck, dass sie daran keinerlei Interesse haben.

 

Vor ein paar Tagen ging ich in meinem Dorf auf einem nicht sehr breiten Fußweg am Bach entlang zum Briefkasten. Da kamen mir drei etwa siebenjährige Kinder entgegen. Sie gingen nebeneinander und reagierten überhaupt nicht darauf, dass ich ihnen entgegenkam. Obwohl ich so weit wie möglich nach rechts auswich, prallte das Mädchen am Rand recht heftig gegen mich. Relativ freundlich belehrte ich die Kinder, sie müssten schon zur Seite gehen, wenn ihnen jemand entgegenkomme. Als sie weit genug entfernt waren, um vor eventuellen Reaktionen meinerseits sicher zu sein, drehten sich die drei nochmals um, und eines brüllte: „Geh du doch auf die Seite!“

Es geht mir hier nicht in erster Linie um die Respektlosigkeit der Kinder gegenüber einer alten Frau – obwohl das auch eine große Veränderung gegenüber der Zeit meines Aufwachsens darstellt –, sondern um den Verlust der bis vor wenigen Jahrzehnten geltenden Selbstverständlichkeit, anderen auf der Straße auszuweichen, Schwächeren den Vortritt zu lassen, anderen die Tür aufzuhalten und dergleichen, also insgesamt aufeinander Rücksicht zu nehmen, überhaupt andere Menschen im öffentlichen Raum wahrzunehmen und das eigene Verhalten entsprechend anzupassen.

Vor einigen Jahren sah ich bei einem Urlaub in einer türkischen Großstadt nach vielen Beinahe-Zusammenstößen schließlich das, worauf ich schon gewartet hatte: Auf einem Platz stießen zwei Männer heftig zusammen, weil keiner von seinem geraden Weg abwich. Ich überlegte damals, ob die von mir dort beobachtete Häufung solcher Situationen vielleicht etwas mit einer anderen geschichtlichen Entwicklung der Kultur des öffentlichen Raums zu tun haben könnte, der in muslimischen Ländern mit starker Geschlechtertrennung viel länger ausschließlich Männern vorbehalten war als in christlich geprägten patriarchalen Gesellschaften. Wenn Männer, Frauen und Kinder sich den öffentlichen Raum gleichberechtigt teilen müssen – so dachte ich –, ist die Entstehung einer Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme wahrscheinlich naheliegender. Ich dachte an die christliche Ritterkultur und das Ideal der Ritterlichkeit, an moralische Erzählungen, beispielsweise an Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, die wir in der Grundschule gelesen und nachgespielt hatten, wobei wir Kinder uns einig waren, wie dumm die Protagonisten dieser Geschichten waren, von denen keiner ausweichen und nachgeben wollte. Ich dachte auch an den lange selbstverständlichen Grundsatz „Frauen und Kinder zuerst (… und der Kapitän zuletzt“) bei Rettungsaktionen sowie an das „Gentleman“-Ideal. Über viele Generationen wurde eine durch solche Ideale geprägte, als europäisch geltende Kultur weitergegeben und musste bei jeder Generation immer wieder neu vermittelt und eingeübt werden. Inzwischen hat sich innerhalb von ein bis zwei Generationen bei uns mehr und mehr das Verhalten durchgesetzt, „cool“ seinen Weg fortzusetzen und auf keinen Fall auszuweichen, weil man ja schließlich kein „Opfer“ sein will. Und wenn fast niemand mehr ausweicht oder einem auch mal den Vortritt lässt, kommt man sich irgendwann dumm vor, es weiterhin zu tun. So nimmt rücksichtsloses Verhalten schnell überhand. Als ich vor einigen Jahren mit einer im Rollstuhl sitzenden Freundin in der Münchner Innenstadt unterwegs war, belehrte sie mich gleich zu Beginn, auf keinen Fall auszuweichen, sonst komme man mit dem Rolli nicht voran. Und ich war entsetzt, weil tatsächlich kaum jemand auf uns achtete oder gar Rücksicht nahm. Dieser Kulturverlust hat nichts mit äußeren Einflüssen zu tun, er ist „selbstgemacht“. Doch es besteht die Gefahr, dass für das undeutliche Gefühl, hier sei etwas Wesentliches dabei, vollends verloren zu gehen, nach äußeren Sündenböcken gesucht wird. Auf das Ideal der „Coolness“ und den Hintergrund für seine Entstehung werde ich in einem späteren Blogpost noch eingehen.

 

Auf dem oben erwähnten Fußweg am Bach entlang, der deutlich mit einem Fußgängergebotsschild gekennzeichnet ist, fahren inzwischen immer mehr Radfahrer ohne jegliches Unrechtsbewusstsein, d.h., sie fahren nicht etwa defensiv, sondern klingeln schon von weitem und erwarten, dass Fußgänger auf die Seite springen. Auch auf schmalen Wanderwegen ist das inzwischen üblich, obwohl das Radfahren dort (noch) verboten ist. Sogar auf städtischen Gehwegen fahren die inzwischen erwachsen Gewordenen ebenso rücksichtslos wie früher auf ihren Kinderrädern und erwarten ebenso wie damals, dass ihnen Platz gemacht wird. Manchmal sage ich dann: „Das ist hier kein Radweg“. Einmal bekam ich von einem ca. 40jährigen Mann die Antwort: „Halt’s Maul!“ und ein anderer aus derselben Altersgruppe, der mich und eine andere Frau beinahe umfuhr, antwortete auf unseren Protest, wir seien doch nur frustrierte alte Weiber und sollten uns nicht aufregen, es sei ja nichts passiert. Die meisten antworten allerdings freundlich: „Ja, ich weiß“, oder „Ja, ja!“ – und fahren in unverminderter Geschwindigkeit weiter. Das geschah einmal sogar an einer Engstelle, vor der ich eine ganze Weile warten musste, bis der Radfahrer sich durchgeschlängelt hatte. Auch dann fuhr er ungeniert auf dem Fußgängerweg weiter, obwohl er leicht auf die Straße hätte wechseln können.

Dass es ebenfalls ein Kulturverlust ist, der nicht nur die Sicherheit gefährdet, sondern auch das Zusammenleben erschwert, wenn Menschen sich nicht mehr an Regeln halten, fällt mir erst in letzter Zeit so richtig auf – und das nicht nur im Straßenverkehr. Es ist noch nicht so lange her, dass auch ich manche Regeln „sportlich“ übertrat und Spaß daran hatte. Und als einst Mitwirkende an der antiautoritären Bewegung gab es auch Zeiten, in denen mir sogar der Slogan „Legal, illegal, scheißegal“ Spaß machte. Erst jetzt merke ich, wie schnell manche Selbstverständlichkeiten verloren gehen, wenn Regeln nicht mehr beachtet werden, und wie anstrengend dadurch beispielsweise die Fortbewegung im öffentlichen Raum wird, vor allem für ältere Leute. So einfache Regeln, wie rechts aneinander vorbeizugehen oder dem fließenden Verkehr den Vortritt zu lassen, wenn man aus einer Einfahrt oder einem Hauseingang kommt, funktionieren plötzlich nicht mehr, was nicht nur gefährlich ist, sondern auch Aggressionen erzeugt, vor allem bei denen, die sich noch an Regeln halten und das von anderen ebenfalls erwarten.

 

Diese drei Bereiche von Kulturverlust, über die ich in nächster Zeit schreiben möchte, hängen insofern miteinander zusammen, als sie sich darauf auswirken, wie sich Menschen im öffentlichen Raum begegnen, wie sie einander wahrnehmen und einander Respekt und Wertschätzung entgegenbringen oder eben auch nicht. Wenn die Stimmung auf den Straßen und Plätzen unfreundlicher und tendenziell gewalttätiger wird, ist das etwas sehr Politisches, lange bevor es zu großen Demonstrationen oder anderen Ereignissen kommt, durch die mit Schrecken festgestellt wird, dass etwas gründlich schief gelaufen sein muss, obwohl scheinbar niemand etwas davon gemerkt hat.

Gutes Leben und die Liebe zum öffentlichen Raum

Eine frühere Nachbarin von mir, die mit fast 80 immer noch wissenschaftlich arbeitete und Veranstaltungen leitete, sah ich vor etwa 15 Jahren öfter auf meinem Weg in die Stadt am Straßenrand oder auf dem Grünstreifen in der Mitte Müll auflesen, den sie dann auf ihrem Fahrrad-Gepäckträger nach Hause brachte und dort entsorgte. Ich fand ihr Verhalten damals lächerlich und peinlich, niemals hätte ich sie in dieser Situation angesprochen oder ihr gar geholfen. Vor allem hielt ich ihre Reinigungsversuche für komplett sinnlos. Hätte sie versucht, den Vorplatz vor unserem Wohnblock oder die angrenzenden Grünflächen auf diese Weise sauber zu halten, hätte ich noch Verständnis dafür gehabt. Leider habe ich sie nie danach gefragt, warum sie das tat.

Letzten Sommer sah ich, wie eine ebenfalls etwa 80-jährige Frau am Straßenrand in einer öffentlichen Anlage verblühte Blüten abpflückte, und freute mich einfach nur darüber. Hätte ich es nicht eilig gehabt, hätte ich mir sogar vorstellen können, ihr dabei zu helfen. Nun denke ich darüber nach, ob das Bedürfnis nach Schönheit in einem öffentlichen Bereich, den man täglich durchquert, und die Bereitschaft, etwas dafür zu tun, vielleicht etwas mit dem Älterwerden zu tun hat. Und ob vielleicht auch die Wertschätzung für den öffentlichen Raum und seine Gestaltung erst dann spürbar und sichtbar werden kann, wenn er mehr wird als ein Bereich, den man nur schnell hinter sich bringt, um von der Wohnung zur Arbeit und von der Arbeit zur Wohnung zu kommen.

Vor der Zeit meiner Berufstätigkeit, als Schülerin und als Studentin, war mir der öffentliche Raum ebenfalls sehr wichtig. Bei Reisen in große Städte fand ich die Orte, „wo etwas los war“, wo sich junge Leute trafen, viel interessanter als die zu besichtigenden Sehenswürdigkeiten. Ich freute mich über Plätze und Parks, wo ganz viele unterschiedliche Menschen und Menschengruppen sich frei bewegen konnten und wo viel mehr erlaubt war, als ich von meinem kleinstädtischen Umfeld gewohnt war. Damals kämpften wir an unseren Studienorten eher gegen Einschränkungen unserer Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum, wir ärgerten uns über alte Leute, die daran Anstoß nahmen, wenn wir uns einfach auf dem Pflaster niederließen oder wenn wir uns in der Öffentlichkeit küssten, kämpften aber auch – vergeblich ­– gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr und gegen Gesetze, die uns demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum der Hochschule entzogen. Ich denke, dass damals meine bis heute andauernde Liebe zum öffentlichen Raum entstanden ist. Es gibt für mich nach wie vor kein besseres Anti-Depressivum, als mich entspannt und ohne Zeitdruck im öffentlichen Raum zu bewegen.

Strukturell sind es zwar junge und alte Leute gleichermaßen, vor und nach dem Aufgefressenwerden durch Berufstätigkeit und Familienpflichten, für die es besonders wichtig sein könnte, sich für gutes Leben und Zusammenleben im öffentlichen Raum einzusetzen, konkret sind sie dort jedoch eher GegnerInnen. Beispielsweise gelang es trotz vieler Versuche „im Guten“ in Freiburg bis heute nicht, den jungen Leuten, die auf den Plätzen der Innenstadt die ganze Nacht lautstark feiern wollen, die Perspektive der Anwohner, die nachts schlafen wollen und müssen, nahe zu bringen. Auf einem Platz wurde z.B. eine „Säule der Toleranz“ aufgestellt, die nachts von einer bestimmten Uhrzeit an die Farbe wechselte. Diese wurde aber schließlich immer weniger beachtet und irgendwann sogar teilweise zerstört. Auch mit Abfällen übersäte Rasenflächen, nachdem dort das bestandene Abitur gefeiert wurde, lassen leider nichts von einer Wertschätzung des öffentlichen Raums erkennen und zeigen, dass die Verachtung von Care-Tätigkeiten und den Menschen, die sie verrichten, auch bei der zukünftigen Elite ungebrochen fortbesteht.

Die Frage nach dem guten Leben im öffentlichen Raum – beziehungsweise nach dem Zustand des öffentlichen Raums als Gradmesser für gutes Leben in einer Stadt oder einem Land – hat mich immer wieder beschäftigt, und zwar um so mehr, je mehr Zeit ich dort verbrachte. So fiel mir bei einem Urlaub an einem norditalienischen See der krasse Gegensatz zwischen der Schönheit und Gepflegtheit privater Gärten und der Hässlichkeit und Verwahrlosung des spärlichen öffentlichen Raums auf. In einer Kleinstadt im Schwarzwald war an breiten Straßen, fehlenden Gehwegen und ewiglangen Rotphasen der wenigen Fußgängerampeln zu erkennen, welcher Blickwinkel im Gemeinderat dominierte und welcher offensichtlich komplett fehlte. Wenn ich von Reisen ins Ausland zurück kam, nicht nur aus muslimischen Ländern, sondern auch aus Frankreich und Italien, war ich besonders dankbar dafür, wie frei ich mich als Frau ohne männliche Begleitung hier im öffentlichen Raum bewegen konnte, ohne belästigt zu werden, oder auch darüber, dass sich überhaupt Frauen im öffentlichen Raum aufhalten. Bei einem Besuch in einer Vorstadt von Lissabon stellte ich fest, dass hier überhaupt niemand zu Fuß unterwegs war. Aus Angst vor Überfällen und Entführungen verließen die Menschen ihr von einer hohen Mauer umgebenes Grundstück nur im Auto. Kinder wurden sogar zu den Freunden in der nächsten Querstraße mit dem Auto gebracht und durften nie allein den eigenen Hof verlassen. Ähnlich erlebte ich es schon Anfang der 70er Jahre in amerikanischen Vorstädten. Hier gab es also außer für ein paar unwissende Touristen und für Autofahrer überhaupt keinen öffentlichen Raum unter freiem Himmel mehr. Sehr bedrückend fand ich es auch, wenn ich – vor allem nach der Wende in Ländern des ehemaligen Ostblocks – den Eindruck hatte, niemand habe Interesse oder sei bereit, mit Fremden Kontakt aufzunehmen, der öffentliche Raum sei also, abgesehen von geschäftlichen Transaktionen, kontaktlos und stumm.

Vor einigen Jahren schrieb ich einen Text darüber, wie sich das Verständnis über das, was als privat und als öffentlich gilt, seit 68er-Bewegung und Frauenbewegung gewandelt hat. Damals hatte ich die Hoffnung, der öffentliche Raum könnte einmal so etwas wie eine große Wohnküche werden, in der viele Verschiedene zusammenkommen, die sich auch für die Gestaltung dieses Raumes verantwortlich fühlen. Heute habe ich eher den Eindruck, dass die gesellschaftliche Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung geht, weg vom Gestalten des öffentlichen Raums, hin zu noch mehr Privatheit und Eigeninteresse. Ich habe lange gezögert, über das zu bloggen, was ich dabei beobachte, denn ich möchte keine der Alten sein, die ständig herumnörgeln, alles werde schlechter und alles werde weniger, und früher sei alles besser gewesen. Doch da ich vom Reisen her weiß, wie unterschiedlich mein Wohlbefinden im öffentlichen Raum sein kann, ist mir auch klar, dass Freiheit und mein Wohlbehagen im öffentlichen Raum auch hier verloren gehen können, ebenso wie der Raum für Politik durch bestimmte Entwicklungen verlorengehen kann. Deshalb plane ich eine kleine Serie von Blogposts über Veränderungen im öffentlichen Raum, die ich mit „Kulturverlust“ überschreiben möchte. Mir ist bewusst, dass dieser Begriff und auch einige meiner Beobachtungen in Zeiten einer plötzlich auftretenden Massenbewegung von Menschen, die den Untergang der Kultur des Abendlandes fürchten, die Gefahr birgt, Zustimmung von der falschen Seite zu bekommen. Doch gerade auch deshalb erscheint es mir wichtig, über meine Beobachtungen und die Sorgen, die sie in mir auslösen, zu schreiben.

Was nicht vom Kapitalismus geregelt wird

Vor einigen Jahren hing ein riesiges Plakat am Freiburger Theater, mit dem für eine Veranstaltungsserie geworben wurde: „Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus?“ Als ich es las, dachte ich spontan: „Ja klar, die Welt der Gabe zum Beispiel!“ Denn ich hatte gerade entdeckt, dass die Gabe nach einer ganz anderen Logik funktioniert als der Tausch von Waren und Dienstleistungen. Doch sofort kamen mir Zweifel und ich merkte, dass die Frage am Theater falsch gestellt war. Sobald ich nämlich aus dem Gabegeschehen oder aus etwas anderem, beispielsweise der Subsistenzwirtschaft, eine Alternative zum Kapitalismus machen möchte, bekommt diese Charakterzüge, die mir nicht wünschenswert erscheinen, schon in der Vorstellung verbinde ich damit etwas Unfreies und Dogmatisches. Was ich über reine bzw. überwiegende Gabegesellschaften gelesen habe, in denen die Pflicht zum Geben und der gesellschaftliche Druck, ihr nachzukommen, eine große Rolle spielen, finde ich als Gesellschaftsmodell nicht erstrebenswert, dafür ist mir die Freiheit beim Schenken zu wichtig. Und die habe ich nur, wenn es auch den Tausch gibt. Doch vom Tausch zur kapitalistischen Gewinnmaximierung um jeden Preis ist der Weg nun mal nicht weit, oder?

Alternativen sind einander ausschließende Gegensätze. Wenn wir in Alternativen denken, werden wir zum einen dem Leben nicht gerecht, in dem es keine reinen Alternativen gibt, sondern eher ein „Sowohl – als auch“ oder ein „Mehr-das-eine-als-das-andere“, zum anderen binden wir uns im Gegensatzdenken an das, zu dem wir eine Alternative suchen, wodurch neue, ganz andere Ideen keine Chance haben. Und da wir ständig mit dem beschäftigt sind, gegen das wir uns abgrenzen und wozu wir einen Gegensatz bilden wollen, tauchen merkwürdigerweise schließlich auch in unserer „Alternative“ Dinge auf, die wir mit ihr bekämpfen wollten. Ich wollte beispielsweise eine ganz andere Lehrerin sein als mein Vater, der sehr streng war und vor dem wir alle Angst hatten. So wurde ich eine Lehrerin, vor der niemand Angst haben musste, und ich war sehr stolz darauf, wenn Eltern mir bestätigten, dass ihre Kinder im Gegensatz zu früher nun ohne Angst in die Schule gingen. Da ich aber so sehr an mein alternatives Verhaltensmodell gebunden war, um jeden Preis anders sein zu müssen als mein Vater, hatte ich keinen Raum und keine Freiheit für neue Ideen und Lernerfahrungen. So gelang es mir nicht sehr gut, mich einer Klasse gegenüber durchzusetzen. Nun hatte ich Angst vor der Schule. Und weil ich mich so überfordert fühlte, geschah es schon bald, dass ich mich in der Klasse brüllen hörte wie einst meinen Vater, worüber ich natürlich sehr erschrak.

Ich denke, dass mit dem Sozialismus etwas Ähnliches passiert ist. In dem Maße, wie er sich als Alternative zum Kapitalismus, als alles Bürgerliche und Kapitalistische ausschließenden Gegensatz dazu verstand, überlebten immer weniger Ideen aus der ursprünglichen Vielfalt sozialistischen und sozialdemokratischen Denkens und den Erfahrungen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Wie sehr sich sozialistische Gesellschaftssysteme schließlich im Wettbewerb der Systeme hinsichtlich Menschenverachtung, Ausbeutung und Unterdrückung der kapitalistischen „Alternative“ annäherten, ist ja ausreichend dokumentiert, gerade habe ich beispielsweise in Swetlana Alexijewitschs Buch Secondhandzeit darüber gelesen.

Doch immer wieder ist zu hören, dass es nach dem Untergang des Sozialismus keine Alternative mehr zum Kapitalismus gebe, weshalb er sich jetzt in seiner ganzen Raubtierhaftigkeit und Bösartigkeit zeigen und sich immer weiter ausbreiten könne. Und dass er aus diesem Grund auch niemals mehr untergehen könne.

In einem Text der Diotima-Philosophin Diana Sartori, den ich für die Onlinezeitschrift beziehungsweise-weiterdenken zusammengefasst habe, fand ich einen Vorschlag, der uns zu der Erkenntnis verhelfen könnte, dass der Kapitalismus in Wirklichkeit nicht so allumfassend ist, wie er dargestellt wird und wie wir ihn oft erleben. Sie schreibt, er fülle in Wirklichkeit nicht den ganzen Raum aus, auch wenn er ein unaufhörlicher Prozess von Ausbeutung und Privatisierung sei, in dem er das, was sich noch außerhalb seines Zugriffs befinde, weiter zu kolonisieren versuche, um auch daraus Gewinn zu ziehen. Doch parasitär kann nur etwas leben, wenn es darunter oder daneben noch etwas anderes gibt, das ausgesaugt werden kann. Feministische Studien, die Ökonomie radikal neu denken, kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Kapitalismus nur eine partielle und sekundäre Dimension der Wirtschaft sei. In ihren Büchern The End of Capitalism (as wie knew it) und A Postcapitalist Politics von J.K. Gibson-Graham schlagen die Autorinnen eine Praxis vor, um die anderen Dimensionen der Wirtschaft wahrnehmen und stärken zu können. Wir sollen uns die Frage stellen: „Wie viele Dinge meines Lebens werden wirklich vom Kapitalismus geordnet und geregelt? Und welche Teile sind es dagegen nicht und sind es auch nie gewesen?“

Als ich das ausprobierte, wurde mir schnell klar, dass es nicht darum gehen konnte, Bereiche zu finden, die unabhängig von kapitalistischer Wirtschaft sind. Wenn ich kein Auto habe und mit dem Fahrrad fahre, ist ja mein Rad trotzdem etwas, das unter kapitalistischen Bedingungen hergestellt wurde. Wenn ich meine Kleidung auf dem Flohmarkt kaufe, heißt das ja nicht, dass sie nicht auch einmal unter brutal ausbeuterischen Bedingungen in Bangladesch genäht worden ist. Und wenn ich unbezahlt Texte veröffentliche, die mir wichtig sind, brauche ich ja trotzdem einen Computer und Geld für meinen Lebensunterhalt. Aber wenn ich einen Lieblingspullover zum fünften Mal stopfe, auch wenn sich das überhaupt nicht „rechnet“, oder wenn ich eine Zucchinipflanze in meinem Garten monatelang aufpäppele, um dann vielleicht ein paar Früchte zu ernten, während Zucchini gerade im Supermarkt fast nichts kosten, wenn mir Qualität in allem mehr bedeutet als Quantität, wenn mir meine Beziehungen wichtiger sind als mein Profit, dann bewege ich mich in einer anderen Logik, die nicht vom Kapitalismus geordnet und geregelt wird.

Mit meiner Suche stehe ich erst am Anfang. Ich wünsche mir, dass sich andere auch auf die Suche nach dem machen, was außer dem Kapitalismus noch in unserem Wirtschaftsleben vorhanden und wirksam ist – und hier in den Kommentaren etwas über ihre Erfahrungen schreiben.

„Genug“

Von Caroline Krüger wurde der Begriff „genug“ vor mehr als zwei Jahren in unsere Vor-Gespräche zum ABC des guten Lebens eingebracht. Ich merkte sofort, dass das „Genug“ etwas mit mir und meinem Begehren zu tun hat. Wie ich das immer mache, probierte ich die Möglichkeiten dieses Begriffes von mir selbst ausgehend aus und experimentierte damit: beim Essen, beim Umgang mit Zeit, bei Tätigkeiten und beim Konsum, beim Schenken und vor allem bei der Arbeit, die ich verschenke. So entdeckte ich das „Genug“ als wunderbaren persönlichen Maßstab, der mir erlaubte, immer in der Perspektive der Fülle zu verbleiben und trotzdem sinnvolle Grenzen zu setzen, die meinem Wohlergehen förderlich waren. Was mich aber ebenso sehr interessierte, war die Frage, ob das „Genug“ auch ein politischer Maßstab werden könnte, der – ohne Fülle, Schönheit, Freiheit, Genuss, Differenz und weitere ABC-Begriffe außer Acht zu lassen und ohne allen Moralismus – zur Begrenzung von technologisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungen führen könnte, die einem „guten Leben für alle“ schaden bzw. es verhindern. Mir war klar, dass ich daran im Gespräch mit anderen weiterarbeiten wollte. Ein Internetlink zu Ivan Illichs Buch „Selbstbegrenzung“ machte mich darauf aufmerksam, dass dieser Denker sich auch schon mit diesem Thema beschäftigt hat. Ich fand, dass einige seiner Überlegungen für eine politische Auseinandersetzung mit dem „Genug“ hilfreich sein könnten.

In meinem Workshop bei der Denkumenta 2013 wollte ich dann mit anderen zusammen an diesem Thema weiterdenken. Zu Beginn trugen wir in einigen Runden Statements zu einem „dankbaren“, „sehnsuchtsvollen“ und einem „abgrenzenden“ Genug zusammen anhand der vorgegebenen Satzanfänge:

 

– Ich bin dankbar, dass ich genug …  habe

– Ich freue mich, wenn ich genug …

– Mir geht es gut, wenn ich genug …

 

– Ich möchte endlich mal genug …  haben

– Ich wünsche mir genug …

– Ich sehne mich danach, genug … zu haben

 

– Davon hab ich genug, dass …

– Mir reicht es jetzt mit …

 

Wie ich es von italienischen Philosophinnen gelernt habe, gingen wir von dem aus, was wir schon haben, und von unserer Sehnsucht, vom Reichtum unseres Begehrens. Nicht von dem, was uns fehlt, vom Mangel. Beim abgrenzenden Genug ging es um ein Zuviel, das dem guten Leben schadet. Und damit lag der Schwerpunkt auch mehr auf dem guten Leben für alle als auf einem Kampf gegen das Zuviel.

Über vieles, was wir als ein Zuviel empfinden, sind wir uns schnell einig, beispielsweise Kriege, Rüstungsproduktion, Atomkraftwerke, Ressourcen- und Lebensmittelverschwendung, Zeitdruck, Arbeitsüberlastung usw., die Frage ist nur, wie diese Dinge begrenzt werden könnten und was wir dafür tun (und lassen) können oder wollen.

Ivan Illichs „Pamphlete“ aus den 1970-er Jahren richteten sich gegen ein Zuviel an etwas, von dem sich alle oder doch die meisten damals einig waren, dass es etwas Gutes ist und dass wir überall auf der Welt immer mehr davon brauchen. Vor allem wandte er sich gegen zu viel Beschulung und Expertentum, zu viel Medizin und Lebensverlängerung um jeden Preis, gegen immer höhere Geschwindigkeiten, gegen Sozialarbeit und Institutionen generell. Heute gäbe es vielleicht einen weitgehenden Konsens, dass wir überall auf der Welt immer mehr Arbeitsplätze und Energie brauchen, gegen den er sich möglicherweise stark machen würde. Illich kam zu seinen Einsichten, weil er die Welt außer aus deutsch-österreichisch-US-amerikanischer Sicht auch aus der Perspektive der Bevölkerung von Puerto Rico und vor allem von Mexico betrachtete, wo er zeitweise lebte.

Auf Englisch heißt Illichs Titel „Tools für conviviality“, ist also positiv formuliert, nicht so negativ und nach Moralismus riechend wie „Selbstbegrenzung“.

„Tools“ ist bei ihm ein sehr weit gefasster Begriff und schließt alles mit ein, was Menschen erfunden haben, „um sich fortzubewegen oder zu verweilen, als Heilmittel für Krankheiten, an Wegen und Mitteln zur Verständigung und zur Versorgung mit Lebensmitteln“. „Tools“ sind also auch Institutionen. Nach Illich gibt es bösartige Wucherungen dieser „Tools“, die einmal Fortschritt bedeutet haben, dann aber durch Experten- und Spezialistentum plus Machtkonzentration dazu führten, dass Menschen die Freiheit genommen wurde, das selbst zu tun, was sie selbst tun könnten, und sie in Arbeit und Konsum zu Sklaven der „Tools“ wurden. Menschen haben beispielsweise die Fähigkeit, „zu heilen, zu trösten, sich zu bewegen, ihre Häuser zu bauen und ihre Toten zu begraben“, schreibt Illich. Es gehe darum, in politischen Prozessen darauf hinzuarbeiten, Tools zu begrenzen, um wieder zu einer Balance zu kommen.

„Werkzeuge“, „Tools“, sind dann convivial, wenn sie dem guten Zusammenleben dienen, wenn sie uns die Freiheit lassen, sie in Anspruch zu nehmen oder auch nicht, ohne dass das Benachteiligung, Ächtung oder Abwertung nach sich zieht.

Eine conviviale Gesellschaft gewährleistet den Einzelnen freien Zugang zu den Werkzeugen, diese Freiheit wird nur um der Freiheit der anderen willen eingeschränkt. Conviviales Leben und Zusammenleben ist gekennzeichnet durch eine disziplinierte, schöpferisch-spielerische Leichtigkeit, durch eine feine Ausgewogenheit zwischen dem, was Menschen für sich selbst tun können und dem, was Werkzeuge im Dienste anonymer Institutionen für sie tun können. Eine Erhöhung des Innovationstempos ist nämlich nur sinnvoll, wenn gleichermaßen für Verwurzelung in der Tradition gesorgt, wenn eigene Lebensinhalte und Geborgenheitsgefühle gestärkt werden. Für Illich ist ein Ausschluss schädlichen Werkzeugs und die Beherrschung des nützlichen die wichtigste Priorität heutiger Politik. Denn „Werkzeuge“ können, wenn ihre Entfaltung nicht politisch begrenzt wird, von Helfern zu Herren und Meistern und schließlich zu Henkern werden.

Von einem radikalen Monopol spricht Illich, wenn in einem Lebensbereich die Freiheit, Dinge selbst zu erschaffen und zu gestalten, ganz verloren gegangen ist. (Beispiele: Tote beweinen und bestatten, Lernen versus institutionalisierter Schulung, Häuser bauen, gesunder Menschenverstand versus wissenschaftlicher Gutachten). Wenn Menschen also ihre ureigene Fähigkeit aufgeben, für sich und andere das zu tun, was sie können, um stattdessen etwas „Besseres“ zu bekommen, was ihnen nur ein wichtiges „Werkzeug“ geben kann.

Die Kosten für die Wucherungen der Tools und für die radikalen Monopole tragen schon jetzt alle Menschen, vor allem auch die, die solche Tools gar nicht brauchen oder gar keinen Zugang dazu haben.

Da nur wenig Zeit blieb, um die Nützlichkeit von Illichs Begriffen an konkreten Fragen aus dem Leben der Workshopteilnehmerinnen zu erproben, meinten diese, sie hätten noch nicht genug und baten um eine Verlängerung. Wir hängten also einen zweiten Workshop an, was sich für mich – und vielleicht auch für einige Teilnehmerinnen – im Nachhinein im Rahmen der Fülle der Tagungsangebote als ein „Zuviel“ herausstellte. Sicher werde ich bei anderer Gelegenheit und in anderen Zusammenhängen weiter über das abgrenzende „Genug“ und Illichs Anregungen dazu diskutieren. Vielleicht gelingt es ja dann, Wege zu einer politischen Begrenzung schädlicher oder ausufernder Tools zu finden.

Wie lebendige Ideen mit bunten Kärtchen totgeschlagen werden

Ich habe es mehrmals selbst erlebt und andere haben mir davon erzählt: In der ersten Phase einer Zukunftswerkstatt oder eines anderen Treffens, bei dem es um die Veränderung einer Einrichtung oder um die Ideenfindung für gesellschaftliche Veränderungsprozesse ging, vielleicht auch um die Formulierung eines Parteiprogramms, sprühte der Raum nur so vor Lebendigkeit, Engagement und Visionen von Neuem. Und am Ende, als die Ergebnisse präsentiert wurden, fragte man sich, wofür man nun den schönen freien Samstag geopfert hatte. Mit großem Getöse hatte mal wieder eine Elefantin eine Maus zur Welt gebracht oder sogar nur ein paar Elefantenköttel, statt eines schönen Schmetterlings war aus einer Raupe wiederum eine Raupe geworden, vielleicht mit ein paar bunten Flecken. Und wenn es dann darum ging, wer die sogenannten neuen Ideen nun umsetzen sollte, breitete sich allgemeine Lustlosigkeit aus.

Warum ich in solchen Situationen jedes Mal großen Widerwillen spürte, wenn die ModeratorInnen die bunten Kärtchen verteilten, die am Ende einer Gruppenarbeitsphase an eine Wand gepinnt werden sollten und die dann im weiteren Prozess immer wieder neu geordnet und mit Überschriften auf anderen bunten Kärtchen versehen werden, ist mir bei unserem diesjährigen Denkwochenende von „Kultur schaffen“ klargeworden, eher als Nebenprodukt, denn wir sprachen über ganz andere Themen. In unseren Treffen geht es im Gegensatz zu dem oben Beschriebenen nicht darum, dass am Ende ein Ergebnis oder gar ein Programm herauskommt. Wir denken nur miteinander, ausgehend von dem, was jede von uns aus ihrem Leben in das Gespräch einbringt. Und trotzdem nehmen eigentlich alle jedes Mal viele neue Ideen aus unseren Gesprächen mit, die dann in unserem jeweiligen Alltag und in anderen politischen Projekten wirksam werden.

Dieses Jahr gerieten wir recht schnell in einen ungeheuer intensiven „Flow“, der die meisten von uns so sehr begeisterte, dass wir sogar unsere sonst nach jeder Pause angewandte Praxis „vergaßen“, durch Runden, in denen jede kurz mitteilt, wo sie gerade steht und an welchem Thema sie weiterarbeiten möchte, immer wieder im Denkprozess innezuhalten und quasi einen Schritt zurückzugehen und den Prozess von außen anzuschauen.

Zwei Teilnehmerinnen begründeten ihr Empfinden, nicht so richtig am gemeinsamen Denkprozess teilnehmen zu können, schließlich mit der Kritik, im Gegensatz zu sonst hätten wir uns gar nicht richtig auf ein Thema geeinigt, wir würden nichts richtig auf den Begriff bringen und zu Ende denken, alles sei so unstrukturiert. Uns andere hatte gerade das so fasziniert, dass wir, nachdem wir von einem der Themen ausgegangen waren, die wir nach der Anfangsrunde aufgelistet hatten, ständig Zusammenhänge zwischen den Themen finden konnten,  dass wir also mehrere Themen gleichzeitig mit unserem Denken umkreisten.

Auf die Aussage einer der Kritikerinnen, es habe ihr gefehlt, dass wir das, was wir gemacht hatten, nicht benannt hatten, entgegnete eine andere Teilnehmerin: „Es ist aber vielleicht auch ein Weg, der erst gegangen werden muss, weil erst im Prozess herauskommt, wie man etwas benennen kann.“ An dieser Stelle fiel mir meine Erfahrung mit der Zukunftswerkstatt ein. Denn hier wird mithilfe der bunten Kärtchen der lebendige Denkprozess dadurch kastriert, dass man gezwungen wird, etwas zu benennen, es auf einen Begriff zu bringen, wofür die neuen Worte noch gar nicht gefunden worden sind, weil noch nicht lange genug darüber nachgedacht werden konnte. So werden die Ansätze zu neuem Denken, die zu Beginn des Prozesses noch Begeisterung spürbar werden ließen, in alte Begriffe und Strukturen aus der Vergangenheit gepresst, der neue Wein wird in alte Schläuche gefüllt, wie es Jesus in einem biblischen Gleichnis so zutreffend beschrieben hat.

Dazu fiel mir später noch ein, dass die Piratenpartei in den Medien gerade deshalb immer wieder als nicht ernstzunehmendes Phänomen beurteilt wird, weil einige ihrer MitgliederInnen die Entstehung ihres Parteiprogramms einem lebendigen Prozess überlassen wollen und das, was in der Zukunft geschehen soll, nicht vorzeitig mit Begriffen und Programmen benennen wollen. Hoffentlich gelingt es ihnen, bei dieser Haltung zu bleiben.

Warum ich trotzdem für ein Betreuungsgeld bin

Doch, die Sache mit dem Betreuungsgeld ist ein großer gesellschaftlicher Aufreger. Da widerspreche ich meiner Denkfreundin Antje Schrupp. Dass es hier um eine wichtige gesellschaftliche Auseinandersetzung geht, wird schon daran deutlich, dass in der öffentlichen Diskussion darüber von Anfang an mit dem Schimpfwort „Herdprämie“ gearbeitet wurde, einem Begriff, der suggeriert, es gäbe eine staatliche Prämie dafür, wenn Frauen „an Haus und Herd zurückkehren“, also das tun, was sich vielleicht manche rückwärts gerichteten patriarchalen Männer für sich selbst wünschen und wovor sich die, denen die Freiheit von Frauen am Herzen liegt, sollte es tatsächlich zu einem breiten gesellschaftlichen Trend werden, zu Recht fürchten müssten. Aber diese Gefahr besteht überhaupt nicht: Denn Frauen wollen mit großer Mehrheit berufstätig sein und Kinder haben, mehr öffentliche Kinderbetreuung wird von Frauen schon seit Jahrzehnten gefordert und ist inzwischen wesentlich mehr akzeptiert als noch vor 20-30 Jahren und die Unternehmen brauchen die gut ausgebildeten jungen Frauen als Arbeitskräfte, (so Antje Schrupps Argumente).

Der witzige Begriff „Windelvoluntariat“, der in der Auseinandersetzung um die Vätermonate beim Elterngeld erfunden wurde, diffamiert im Gegensatz zur „Herdprämie“ nicht die Tätigkeit, um die es geht, sondern bezieht sich wirklich auf einen konkreten Aspekt dessen, was Männer in diesen Monaten lernen können: Dass Menschen nicht leben und groß werden können, wenn es nicht andere gibt, die in Zeiten, wo sie das nicht selbst können, dafür sorgen, dass sie nicht in ihrer Scheiße liegen müssen. Und dass Männer diese Erfahrung nun machen, wenn auch nur für kurze Zeit, zusammen mit der Erfahrung, wie anstrengend das Leben mit einem kleinen Kind ist, halte ich für sehr wertvoll im Hinblick auf eine veränderte gesellschaftliche Einstellung zu dem, was immer noch überwiegend Frauen leisten, wenn sie Kinder versorgen und betreuen.

Es ist mir egal, dass vielleicht nur deshalb ein Betreuungsgeld eingeführt werden soll, weil der Ausbau der Kita-Plätze nicht schnell genug voranzutreiben war, um den versprochenen Rechtsanspruch einlösen zu können. Für mich hat die Einführung eines Betreuungsgeldes eine große symbolische Bedeutung, ebenso wie es die Einführung des Elterngelds mit den Vätermonaten hatte. Es geht dabei nämlich nicht in erster Linie um das Geld, das ja sowieso lächerlich wenig ist angesichts dessen, was hier in den Familien für die ganze Gesellschaft geleistet wird. Zumindest wird mit dem öffentlich finanzierten Elterngeld und dem Betreuungsgeld sichtbar gemacht, dass Kinderaufziehen nicht nur Privatvergnügen, sondern eine wichtige gesellschaftliche Tätigkeit ist. (Sogar bei den Diskussionen um ein bedingungsloses Grundeinkommen wird dies immer wieder vergessen). Und wenn es eingeführt ist, kann ja weiter daran gearbeitet werden, dass es verbessert wird, vor allem auch, um der von Antje Schrupp zurecht kritisierten Umverteilung von unten nach oben entgegenzuwirken.

Ja, auch wenn ich mich damit als „Alte-Zeiten-Nostalgikerin“ abqualifizieren lassen muss, will ich, dass die Umstellung auf das, was Antje Schrupp die „neuen Zeiten“ nennt, verlangsamt wird, bzw. dass die neuen Zeiten anders aussehen. Ich möchte keine Gesellschaft, in der alles darauf ausgerichtet ist, dass möglichst wenig der wirtschaftlichen Verwertbarkeit menschlichen Lebens (als Erwerbstätige und als Konsumenten) im Weg steht. Ich möchte, dass die Frauen, die das wollen, sich – unter guten finanziellen Bedingungen – so viel Zeit für ihre Kinder nehmen können, wie sie möchten. Ich kenne eine Frau – altersmäßig könnte sie meine Tochter sein – die im Leben vor allem als Mutter tätig sein wollte und sich einfach nicht für Erwerbstätigkeit interessiert. (Sie war mal meine Arbeitskollegin, hat es also durchaus ausprobiert). Wenn ihr Partner mitgemacht hätte, hätte sie vermutlich noch mehr Kinder bekommen, weil sie so neugierig war, wie das jeweils nächste Kind sein würde. Ich höre Klagen von erwerbstätigen Frauen, die ihre Kinder vollzeit-kitabetreuen lassen, dass sie so viel vom Aufwachsen ihrer Kinder versäumen. Und ich denke, dass unserer Gesellschaft das Element der Entschleunigung gut tun würde, das dadurch verstärkt werden könnte, dass mehr Menschen die Möglichkeit bekommen, ohne Zeitdruck mit kleinen Kindern zusammen zu sein und von ihrer anderen Zeitlichkeit lernen zu können, anstatt sie an den Mainstreamzeitdruck anpassen zu müssen. Ich weiß, dass Menschen, die gern Hausarbeit machen und die Zeit dafür haben, Kinder ganz anders an die Liebe zu den Dingen heranführen können, zu der auch die Freude am Aufräumen, an der Pflege und am Reparieren von Dingen gehört, was im Hinblick auf eine Ressourcen schonende Zukunftsentwicklung wichtige Kompetenzen sind. Das halte ich in Kitagruppen und Schulklassen für äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der verschiedene Lebensentwürfe möglich sind, je nach dem, was einer Frau oder einem Mann liegt. (Und auch die Kinder sind übrigens nicht alle gleich. Manchen tut es überhaupt nicht gut, dauernd mit anderen zusammen sein zu müssen). Wenn es neben der Möglichkeit der Erwerbstätigkeit mit öffentlicher Kinderbetreuung auch noch eine andere Möglichkeit gibt, die ebenso angesehen ist und ebenso gut honoriert wird, würde mir das besser gefallen als die Anpassung an einen einzigen Lebensentwurf, wohin derzeit der Mainstream-Trend geht. Das war übrigens nicht immer so. In den achtziger Jahren gab es hier in der Mütter- und Ökologiebewegung auch unter „fortschrittlichen“ Menschen noch einen starken gegenläufigen Trend.

Das Betreuungsgeld ist, so wie es geplant ist, natürlich nur ein Schrittchen in diese Richtung. Und, ja, es gibt viel daran auszusetzen. Gesellschaftlich unwichtig ist das Thema deshalb aber noch lange nicht.

Eine Gewerkschaft kehrt zur Politik zurück und weiß es nicht

Die IG Metall werbe „mit unorthodoxen Methoden“ um neue Mitglieder und habe damit Erfolg, heißt es im Teaser zu einem „Zeit“-Artikel  (Rudzio/Trauthig: „Endlich wieder mehr Genossen“, 06.10.2011, S. 26). Während Parteien, Kirchen und die großen Gewerkschaften seit Jahren unter Auszehrung leiden, gelang der IG Metall „das erste echte Mitgliederplus seit 22 Jahren“. Wie kam es dazu?

Weil sie die Mitgliederfrage zur wichtigsten, „politischsten“ Frage der Gewerkschaft erklärt haben – um in den Betrieben wieder „stark“ zu werden, gehen Gewerkschafter neuerdings in die Betriebe und reden mit den Menschen dort über die „kleinen, banalen“ Themen, die denen am Herzen liegen, beispielsweise über den Wunsch nach einem warmen Mittagessen, die Angst um die Gesundheit, weil man mit gefährlichen Stoffen umgehen muss, oder über die schmutzigen Kopfhörer in einem Callcenter. Für die Gespräche gilt, dass man den Menschen zu 70% zuhören sollte, denn „den Grund, warum Menschen sich bei der IG Metall organisieren, werden wir immer nur bei den Menschen selber finden“. Deshalb sei das Zuhören so wichtig. Und aus den kleinen Anliegen würden sich dann häufig auch größere Ziele entwickeln, sobald die Menschen gemerkt hätten, dass man etwas ändern kann. Die IG Metall unterstützt sie in ihren Anliegen, tut dabei aber nichts, was diese nicht selbst tun können. Es gehe ja um Emanzipation, nicht um Reklame.

Dieses „Organizing“ genannte Vorgehen hatte in der Gewerkschaft zunächst viel Kritik ausgelöst: Es führe zu einer „unpolitischen Gewerkschaft“, zu einer Art „Pannendienst für Arbeitnehmerfragen“. Als dann jedoch die Mitgliederzahlen stiegen, wurde es akzeptiert. Denn es trug ja zu dem bei, was in der Verwechslung von Politik und Macht als politische Stärke gilt: Hohe Mitgliederzahlen und mehr Mitgliederbeiträge, damit in Tarifauseinandersetzungen ordentlich Druck ausgeübt werden kann. Man könnte auch sagen, viele Mitglieder und das von ihnen bezahlte Geld sind die Machtmittel, die im Machtkampf gegen die Unternehmer im Hinblick auf die im Voraus festgelegten Gewerkschaftsziele „Mehr Geld, weniger Arbeit“ Erfolg versprechen. Und solche Machtkämpfe gelten als das, was „richtig“ politisch ist, im Gegensatz zu den „banalen“ Alltagssorgen der Menschen in den Betrieben und ihrem Wunsch nach einem guten und sinnvollen Leben, auch dort.

Ich bin sicher, dass die Mitgliederzahlen deshalb gestiegen sind, weil die IG Metall, ohne es zu wissen, mit dem, was sie „Organizing“ nennt, zur Politik zurückgekehrt ist. Denn Politik ereignet sich dort, wo Menschen miteinander über das vernünftige Zusammenleben in der Welt verhandeln. Und das Tröstliche ist, dass sie auch dann wirksam werden kann, wenn dieses Verhandeln wie hier nur als Mittel zum Zweck gedacht ist, um die Macht der Gewerkschaft zu erhöhen.