Schon vor längerer Zeit hörte ich mal im Radio ein Interview mit einem Wirtschaftsforscher, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe. Er hatte untersucht, was die wichtigsten Prädiktoren für wirtschaftlichen Erfolg im Leben sind. Herausgefunden hatte er – und das ist ja keine große Überraschung –, dass dabei die Situation, in die man hineingeboren wird, also vor allem die wirtschaftliche Situation des jeweiligen Landes, den Ausschlag gibt. Das heißt, dass eine Person, auch wenn sie noch so ehrgeizig, strebsam, fleißig, gut organisiert und auch risikofreudig ist, sogar wenn sie sich eine sehr gute Ausbildung und die besten Abschlüsse erarbeiten konnte (hier kommt natürlich auch noch der soziale Hintergrund der Herkunftsfamilie ins Spiel), kaum eine Chance hat, es zu etwas zu bringen, wenn sie in einem „armen Land“ lebt. Am Ende wurde der Forscher gefragt, was er solchen Menschen denn empfehlen würde, und er antwortete: „Auswandern“.
Das fiel mir wieder ein im Zusammenhang mit der Tatsache, dass ja nicht nur Menschen, die vor Terror und Krieg flüchten oder vor einem gnadenlosen Militärdienst, nach Europa und besonders nach Deutschland kommen, sondern auch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“, die durch zumindest teilweise erfundene Verfolgungsgeschichten versuchen, als Asylanten anerkannt zu werden, weil es ja für die meisten keine andere legale Möglichkeit gibt, nach Europa bzw. nach Deutschland einzuwandern.
Gleichzeitig erinnerte ich mich an etwas, das ich einmal bei Ivan Illich gelesen hatte, in seinen Büchern „Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems“ und „Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft“, die beide 1972 veröffentlicht wurden. In diesen Büchern vergleicht der ehemalige Jesuit den weltweiten Glauben daran, dass Schulen etwas Gutes sind und dass es Menschen und Gesellschaften umso besser gehen wird, je mehr Beschulung sie sich leisten können, mit dem einstigen Glauben an eine Kirche, die ebenso mit Religion identifiziert wurde wie heute die Schule mit Bildung. Illich war überzeugt, dass das Schulwesen kaum Bildung ermöglicht, dass es wirklicher Bildung eher im Weg steht, dass die Schule bildungs- und gesellschaftsfeindlich geworden ist. In meinem nächsten Post werde ich darauf eingehen, wie er diese Haltung begründet und was er als Alternative vorschlägt.
Die Haupteffekte von Beschulung seien zum einen die Zurichtung für ein Leben als Konsumierende, auch als Konsumierende weiterer Beschulung oder anderer „Pakete“ von Waren und Dienstleistungen, denn das Organisieren von Verbrauchern sei zum wichtigsten Wachstumssektor der Wirtschaft geworden. Heute sei der größte Teil menschlicher Arbeitskraft damit beschäftigt, Nachfragen zu erzeugen, die durch eine kapitalintensive Industrie befriedigt werden können. Das meiste davon geschehe in der Schule. Zudem sei das Schulwesen selbst nicht nur die neue Weltreligion, sondern auch der am schnellsten wachsende Arbeitsmarkt der Welt, was für Entwicklungsländer eine ungeheure Belastung darstelle. (Illich hat außer in New York, wo er mit eingewanderten Puertoricanern arbeitete, auch in Puerto Rico und in Mexiko gelebt). Diese weltweite Anpassung an ein Leben als Verbraucher habe äußerst negative Auswirkungen auf unsere Erde: „Je mehr der Bürger auf den Verbrauch von abgepackten Waren und Dienstleistungen gedrillt wird, um so weniger scheint er imstande zu sein, seine Umwelt zu gestalten. Seine Kraft und sein Geld werden für die Herstellung immer neuer Modelle seiner Standardwaren aufgezehrt, und die Welt wird zum Abfallprodukt seiner Verbrauchergewohnheiten“ (Schulen helfen nicht, S. 126). Dabei schrumpfe die Phantasie, so dass sie sich eine Befriedigung der Bedürfnisse anders als durch die heute in den vielbewunderten Gesellschaften angebotenen „Packungen“ nicht mehr vorstellen könne.
Der zweite Haupteffekt von Schule besteht für Illich darin, dass sie die Grundlage für die Abstufung der gesellschaftlichen Rangfolge herstellt, die von den Einzelnen als selbst verschuldet erlebt wird. Schule bringt also politisch annehmbare Formen einer Diskriminierung hervor, welche die Ursache für geringeren Erfolg im Leben auf eigenes Versagen zurückführt. Allenfalls können noch „ungerechte Lehrer“ mit dafür verantwortlich gemacht werden. So liefert Schule denen, die sie besuchen und dann durchfallen oder abbrechen, eine Erklärung für ihre Unterlegenheit. „Dass durch Schulbildung Unterlegenheit erzeugt wird, zeigt sich in armen Ländern deutlicher und vielleicht schmerzhafter als in reichen Ländern“ (S. 151), denn an das Privileg von längerem Schulbesuch und vielleicht sogar einem Studium knüpfen sich besonders hohe Erwartungen für das spätere Leben. An die Stelle der erblichen Unterlegenheit in einer Ständegesellschaft tritt nun zunehmend die Unterlegenheit des Schulversagers, den man für sein Scheitern persönlich verantwortlich macht. „Dank ihrer Struktur als rituelles Spiel eines stufenweisen Aufrückens leistet die Schule wirksame Dienste als Schöpfer und Erhalter eines sozialen Mythos. Die Einführung in dieses rituelle Spiel ist viel wichtiger als die Frage, was oder wie etwas gelehrt wird. Das Spiel an sich schult, wirkt ansteckend und wird zur Gewohnheit. Eine ganze Gesellschaft wird in den Mythos des immerwährenden Verbrauchs von Dienstleistungen eingeweiht, und zwar in dem Umfang, in dem die Teilnahme an dem endlosen Ritual allenthalben Verpflichtung und Zwang zugleich wird“ (S. 55).
Selbst diejenigen, die bestenfalls zwei Jahre in der Schule zubringen – das waren 1970 in Lateinamerika, Asien und Afrika noch die ganz überwiegende Mehrheit –, „entwickeln Schuldgefühle, weil sie zu wenig Schulbildung verbrauchen. Das Kind lernt nur, dass diejenigen, welche mehr Schulbildung als es selber haben, einen höheren Rang und unbestrittene Autorität besitzen“ (S. 56).
Als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen und später als sozialpädagogische Familienhelferin erlebte ich gerade bei eingewanderten Familien die Enttäuschung und teilweise auch die Wut über dieses Betrogensein durch jenen sozialen Mythos sehr genau mit, wobei sich die Wut oft auch gegen die eigenen Kinder richtete. Diese Eltern waren vor allem auch deshalb nach Deutschland gekommen, weil sie sich für ihre Kinder einen Aufstieg erhofft hatten, der dadurch geschehen sollte, dass diese hier viel mehr Schulbildung bekommen konnten, als es den Eltern im Heimatland möglich gewesen war. Und nun landeten sie in den „schlechtesten“ Schulen und waren auch dort noch anderen unterlegen.
Auch in den Heimatländern selbst werden durch den Mythos, durch mehr Schul- und Studienjahre gesellschaftlich aufsteigen zu können, große Probleme verursacht. Denn es gibt dort ja gar nicht die Arbeitsplätze für eine höhere Zahl an länger ausgebildeten jungen Menschen, die ihr Studium als Investition mit höchstmöglicher Rendite betrachten, die also nach einer solchen Ausbildung nicht mehr zu einfachen und schlecht bezahlten Tätigkeiten bereit sind. So bleibt vielen nur noch die Hoffnung, durch eine Flucht nach Europa ihr Ziel, den sozialen Aufstieg, doch noch zu erreichen. Die Chancen dafür stehen nicht besonders gut.
Zum Flüchtlingsproblem und Flüchtlingselend tragen also nicht nur die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und die Waffenexporte der Industrieländer bei, sondern auch das, was alle – ob kapitalistisch, sozialistisch, christlich, muslimisch oder was auch immer – für das Beste halten, das für „Entwicklung“ getan werden kann: die Ermöglichung von immer mehr Schul“bildung“.
Sie verkürzen Bildung, wenn Sie Bildung auf einen Dressurakt und eine Legitimation für Ungleichheit verkürzen. Darum geht es nicht. Bei Bildung geht es nicht um Zeugnisse, nicht im Chancen, nicht um Berufe oder gar Geld. Bei Bildung geht es um die Sensitivität, die jeder Konfrontation mit Kunst entspringt, um die Fähigkeit zum radikalen Perspektivenwechsel, die Literatur vermittelt, um Staunen, um die Fähigkeit zur Bewunderung, um Demut vor der Größe der Ilias, einer Statue des Praxiteles, vor dem Vorspiel des Tristan und der Schönheit und Unendlichkeit der Zahlen.
Wer all das nicht kennt, ist ein armer Mensch, den ich mir in keiner Führungsposition wünsche. Dass das angesichts einer Gesellschaftsordnung, die nicht allen die gleichen Chancen einräumt, auch einmal zu individuellen Ungerechtigkeiten führt, mag sein. Ich halte diese Ungerechtigkeiten aber für das geringere Übel als den Verlust, den es bedeuten würde, Bildung so zu verkürzen, wie Sie es in Ihrem Text zum Ausdruck bringen.
(Ich hoffe – und so entschieden äußere ich mich selten – die Lehrer meines knapp noch nicht schulpflichtigen Sohnes haben ein anderes Bild von Bildung als Sie.)
Da haben Sie mich leider komplett falsch verstanden. Ich stimme Ihnen ja zu bei dem, was Sie über Bildung schreiben. In meinem Text geht es aber nicht um Bildung – darüber werde ich im nächsten Post etwas schreiben – sondern um Schule, die zu Unrecht mit Bildung gleichgesetzt wird. Wie eng beides im allgemeinen Denken verknüpft wird, dafür ist Ihr Kommentar ein gutes Beispiel.
Nein, ich habe Sie nicht falsch verstanden. Ich habe aber eine weit höhere Meinung von Formalbildung. Ich bin nämlich durchaus der Ansicht, dass das, was eine gute Schule lehrt, außerhalb des Schulsystems kaum vermittelt werden kann. Ich denke da nicht nur an mein (kirchliches) humanistisches Gymnasium, sondern auch an den Umstand, dass die meisten Menschen in meinem Umfeld, die ich als gebildet bezeichnen würde, Schulen von Rang, Tradition und oft ebenfalls klingenden Namen besucht haben.
Ich kenne die Tendenz mancher Linken, einer klassischen Bildung andere Kenntnisse gleichsetzen zu wollen. Ich habe mich einmal mit einem Lehrer unterhalten, der allen Ernstes meinte, Rap sei keine schlechtere Lyrik als Benn. In meinen Augen ist dies Anzeichen eines Kulturverlustes. Ich kann nur hoffen, dass die Betroffenen dieser törichten Gleichsetzung nicht aufsitzen, die im Namen vermeintlich niedrigschwelliger Bildungsangebote Leuten tatsächlich Chancen auf Bildung und sozialen Aufstieg verbaut.
O.k., dann sind wir in diesem Punkt (erster Abschnitt Ihres Kommentars) halt unterschiedlicher Meinung. Trotzdem haben Sie meinen Text nicht genau gelesen (oder absichtlich missverstanden), sonst wäre Ihnen aufgefallen, dass ich mich gar nicht über Bildung geäußert und auch noch nicht einmal dargestellt habe, was Illich unter Bildung versteht und wie er sie ohne die Art der Beschulung, die er kritisiert, fördern will. Trotzdem erlauben Sie sich ein Urteil über mein Bildungsverständnis, über das Sie aufgrund dieses Textes noch gar nichts wissen können.
Ich wollte mich zunächst gar nicht weiter äußern, weil ich es nicht besonders sympathisch finde, seinem Gesprächspartner das Textverständnis abzusprechen. Gleichwohl, und weil ich mich ziemlich geärgert habe über Ihren Ansatz, möchte ich doch noch hinterlassen, dass ich mir keinen Ort vorstellen kann, der einen klassischen Bildungskanon vermittelt. Es mag sein, dass es Menschen gibt, die sich diesen auch außerhalb klassischer Gymnasien erschließen können. Mir ist in meiner mehrjährigen Tätigkeit an zwei Unis (ich habe da an der juristischen Fakultät Arbeitsgemeinschaften unterrichtet) und als Ausbilderin junger Juristen nur nie eine Person begegnet, auf die dies zutrifft. Meine besten, differenziertesten, eloquentesten Studenten, Referendare und Assessoren waren und sind die Absolventen der meist altsprachlichen, oft kirchlichen Gymnasien. Wer also Chancengleichheit fördern will, täte gut daran, mehr und nicht weniger Schule in ihrem klassischsten Sinne zu fordern.
„keinen Ort außerhalb der Schule“ natürlich.