Eine Gewerkschaft kehrt zur Politik zurück und weiß es nicht

Die IG Metall werbe „mit unorthodoxen Methoden“ um neue Mitglieder und habe damit Erfolg, heißt es im Teaser zu einem „Zeit“-Artikel  (Rudzio/Trauthig: „Endlich wieder mehr Genossen“, 06.10.2011, S. 26). Während Parteien, Kirchen und die großen Gewerkschaften seit Jahren unter Auszehrung leiden, gelang der IG Metall „das erste echte Mitgliederplus seit 22 Jahren“. Wie kam es dazu?

Weil sie die Mitgliederfrage zur wichtigsten, „politischsten“ Frage der Gewerkschaft erklärt haben – um in den Betrieben wieder „stark“ zu werden, gehen Gewerkschafter neuerdings in die Betriebe und reden mit den Menschen dort über die „kleinen, banalen“ Themen, die denen am Herzen liegen, beispielsweise über den Wunsch nach einem warmen Mittagessen, die Angst um die Gesundheit, weil man mit gefährlichen Stoffen umgehen muss, oder über die schmutzigen Kopfhörer in einem Callcenter. Für die Gespräche gilt, dass man den Menschen zu 70% zuhören sollte, denn „den Grund, warum Menschen sich bei der IG Metall organisieren, werden wir immer nur bei den Menschen selber finden“. Deshalb sei das Zuhören so wichtig. Und aus den kleinen Anliegen würden sich dann häufig auch größere Ziele entwickeln, sobald die Menschen gemerkt hätten, dass man etwas ändern kann. Die IG Metall unterstützt sie in ihren Anliegen, tut dabei aber nichts, was diese nicht selbst tun können. Es gehe ja um Emanzipation, nicht um Reklame.

Dieses „Organizing“ genannte Vorgehen hatte in der Gewerkschaft zunächst viel Kritik ausgelöst: Es führe zu einer „unpolitischen Gewerkschaft“, zu einer Art „Pannendienst für Arbeitnehmerfragen“. Als dann jedoch die Mitgliederzahlen stiegen, wurde es akzeptiert. Denn es trug ja zu dem bei, was in der Verwechslung von Politik und Macht als politische Stärke gilt: Hohe Mitgliederzahlen und mehr Mitgliederbeiträge, damit in Tarifauseinandersetzungen ordentlich Druck ausgeübt werden kann. Man könnte auch sagen, viele Mitglieder und das von ihnen bezahlte Geld sind die Machtmittel, die im Machtkampf gegen die Unternehmer im Hinblick auf die im Voraus festgelegten Gewerkschaftsziele „Mehr Geld, weniger Arbeit“ Erfolg versprechen. Und solche Machtkämpfe gelten als das, was „richtig“ politisch ist, im Gegensatz zu den „banalen“ Alltagssorgen der Menschen in den Betrieben und ihrem Wunsch nach einem guten und sinnvollen Leben, auch dort.

Ich bin sicher, dass die Mitgliederzahlen deshalb gestiegen sind, weil die IG Metall, ohne es zu wissen, mit dem, was sie „Organizing“ nennt, zur Politik zurückgekehrt ist. Denn Politik ereignet sich dort, wo Menschen miteinander über das vernünftige Zusammenleben in der Welt verhandeln. Und das Tröstliche ist, dass sie auch dann wirksam werden kann, wenn dieses Verhandeln wie hier nur als Mittel zum Zweck gedacht ist, um die Macht der Gewerkschaft zu erhöhen.