„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“

Ein 91-jähriger Mann, mit dem ich mich manchmal unterhalte, findet es nicht gut, dass so viele junge Männer als Flüchtlinge zu uns kommen, anstatt in ihrem Land „für Ordnung zu sorgen“. Ihm kann ich eine solche Meinung zugestehen. Denn er musste als junger Mann jahrelang im Krieg kämpfen und wurde schwer verwundet. Sein ganzes Leben lang litt er unter den Folgen, unter anderem blieb sein Gesicht verunstaltet. Dass er diesem Aspekt seines Lebens auch im Nachhinein noch einen Sinn geben möchte, kann ich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Doch es gibt auch jüngere Menschen, die in ihren Hetzkommentaren gegen Flüchtlinge schreiben, diese sollten lieber in ihrem Land kämpfen, „als hier in den Cafés herumzusitzen“. Sogar in einem Artikel auf einem feministischen Portal wurde kritisiert, dass die jungen Männer allein zu uns kommen und ihre Frauen und Kinder ohne Schutz im Kriegsgebiet zurücklassen würden. Dass Männer durch ihre Kriegshandlungen Frauen und Kinder beschützen würden, war immer schon die größte Lüge in diesem Zusammenhang. Denn sie sind ja gerade nicht zu Hause bei ihren Frauen und Kindern, während dort die Bomben fallen, sondern irgendwo an der Front oder gar als Besatzer in Ländern, in denen sie nichts zu suchen haben. Als es noch Gewissensprüfungen für Wehrdienstverweigerer gab – einige meiner Klassenkameraden bereiteten sich in der Zeit vor unserem Abitur darauf vor – wurde immer wieder über die beliebtesten Fangfragen gesprochen, beispielsweise folgende: „Was tust du, wenn ein Verbrecher deine Freundin bedroht, und du hast ein Gewehr?“

Inzwischen wurden bei uns nicht nur diese Gewissensprüfungen abgeschafft, sondern sogar der ganze Wehrdienstzwang. Schon seit fast fünf Jahren ist die Wehrpflicht „ausgesetzt“, wobei diese Formulierung wahrscheinlich dazu beitrug, dass wir damals keine Freudenfeste feierten, keine Freudensprünge machten. Ich wunderte mich jedenfalls, wie stillschweigend eine so großartige Veränderung zum Besseren über die Bühne ging.

Als Jugendliche sang ich mit Hingabe Anti-Kriegslieder wie das von Kurt Tucholsky: „Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen, hast dich zwanzig Jahr’ mit ihm gequält, … bis sie ihn dir weggenommen haben, für den Graben“. Oder „Le déserteur“ von Boris Vian, in dem er darüber schreibt, dass er seinen Einberufungsbefehl bekommen hat, um nach Algerien in den Krieg zu ziehen, und dass er nicht bereit ist, dorthin zu gehen, „um arme Leute zu töten“. Stattdessen wird er in Frankreich untertauchen und von Ort zu Ort fliehen, gejagt von den Gendarmen. Während des Vietnamkriegs waren die US-amerikanischen Deserteure, die nach Kanada flohen oder ins Gefängnis kamen, weil sie nicht in diesem schmutzigen Krieg kämpfen wollten, dann so etwas wie Helden für mich. Und in der Zeit der großen Friedensdemonstrationen war der Titel dieses Beitrags, ein aus dem Zusammenhang gerissenes (und damit verfälschtes) Brecht-Zitat, für viele ein beliebter Slogan, an dessen Verwirklichung aber kaum jemand so richtig glauben konnte.

Und nun nehmen junge Männer aus Ländern, in denen Männlichkeit, Wehrhaftigkeit und Ehre immer noch eng zusammengehören, die Gefahren und Strapazen einer Flucht auf sich, um nicht in regulären oder illegalen Armeen gegen ihre Landsleute oder einfach gegen andere Menschen kämpfen zu müssen. Wenn das kein Grund zur Freude ist!

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