Schulen können nur selten Orte der Bildung sein

Wie im letzten Beitrag angekündigt, gehe ich nun auf Ivan Illichs Bildungsverständnis ein und auf die Argumente für seine Überzeugung, dass Schulen nur in seltenen Glücksfällen dafür geeignet sind, Menschen Bildung zu ermöglichen. Im nächsten Beitrag werde ich mich dann mit seinen Vorschlägen auseinandersetzen, wie mehr Menschen auf andere Weise als durch Beschulung zu mehr Bildung kommen könnten.

Das Verlangen nach Bildung sei heute dem Zwang zur Schulung gewichen. Die intensive Förderung des Schulwesens führe zu einer so weitgehenden Identifizierung von Schulbesuch und Bildung, dass die beiden Begriffe im täglichen Sprachgebrauch auswechselbar würden, schreibt Illich in „Schulen helfen nicht“ (S. 13 u. S. 129/130). Die Folge ist, dass sich kaum noch jemand Gedanken darüber machen muss, was Bildung eigentlich ist, denn wir bekommen sie ja quasi „im Paket“ geliefert und müssen sie nur noch konsumieren. Doch Bildung entsteht nur dort, wo ich mich selbst bilde, es ist ein aktiver Prozess der Auseinandersetzung mit dem, was mir begegnet oder angeboten wird.

Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, dann gab es in all den Jahren kaum Momente, in denen ich mich wirklich für das interessiert habe, was mir dort angeboten wurde. Ich ließ das Ganze halt wie alle anderen auch über mich ergehen und saß meine Zeit ab. Es gab ein paar engagiertere Lehrpersonen, insgesamt wenige, bei denen war der Unterricht wenigstens nicht ganz so langweilig. Wenn ich sie mochte, tat es mir leid, dass all ihr Engagement nicht mehr innere Anteilnahme bei mir wecken konnte. Manchmal heuchelte ich sogar Interesse, um ihnen eine Freude zu machen.

Bildungsanregungen bekam ich überwiegend außerhalb der Schule: Durch eine alte Psychagogin, die ich von meinem 16. Lebensjahr an bis Mitte zwanzig immer wieder besuchte, durch mein Engagement in sozialen und politischen Gruppen, durch selbst organisierte Lerngruppen während meines zweiten und dritten Studienabschnitts, durch meine Unterrichtsvorbereitungen als Lehrerin, durch selbst organisierte Fortbildungen im Rahmen meines Engagements für eine demokratische Umgestaltung von Schule (Freinet-Pädagogik), durch Begegnungen auf Reisen und schließlich durch mein autodidaktisches Philosophiestudium und Recherchen für meine Bücher und Übersetzungen.

Bildung geschieht nur dort, wo ich Fragen habe. In der Schule werden ständig Fragen beantwortet, die die Lernenden noch gar nicht gestellt haben oder überhaupt nicht stellen konnten, da ihnen dafür die Voraussetzungen fehlten, vor allem die entsprechenden Lebenserfahrungen in konkreten Kontexten. Schließlich werden sie ja jahrelang viele Stunden pro Tag von der wirklichen Welt ferngehalten. Außerdem bewirkt der Anpassungsprozess in den ersten Schuljahren, dass ihnen das Fragen abgewöhnt wird, weil sie schnell verstehen, dass ihre Fragen hier fehl am Platz sind. Solche Fragen halten sich nämlich selten an das, was gerade „dran“ ist.

Natürlich werden in der Schule auch unverzichtbare Fertigkeiten vermittelt: Lesen, Schreiben, Rechnen, Einführung in Fremdsprachen und das Auswerten von Texten zum Beispiel. Doch das kann in wesentlich kürzerer Zeit geschehen, wenn die Lernenden es zu ihrer eigenen Sache machen. Diese Erfahrung habe ich als Lerntherapeutin oft gemacht, wenn ich Jugendlichen oder Erwachsenen in wenigen Stunden Rechtschreibung beibrachte oder ihnen bei einer Prüfungsvorbereitung in einer Fremdsprache half. Fertigkeiten zu lehren ist jedoch etwas ganz anderes, als zur Bildung beizutragen. Illich schreibt: „Wer eine Fertigkeit lehrt, stützt sich auf die Anordnung bestimmter Umstände, die es dem Lernenden ermöglichen, festliegende Antworten zu finden. Wer zur Bildung führt oder sie lehrt, ist darum bemüht, passende Partner zusammenzuführen, damit Lernen stattfinden kann. Er führt einzelne Menschen zusammen, die von ihren eigenen ungelösten Fragen ausgehen.“ Und: „Schöpferisches, forschendes Lernen macht es nötig, Gleichgesinnte zu finden, die in diesem Augenblick von denselben Begriffen oder Problemen bedrängt werden“ (Entschulung der Gesellschaft, S. 32 und 33).

Illich hält es für eine Illusion, dass das meiste Wissen aus Unterweisung stamme. „Unterweisung kann unter bestimmten Umständen Wissen vermitteln. Die meisten Menschen erwerben jedoch den größten Teil ihrer Erkenntnis, ihres Wissens und ihrer Fertigkeiten außerhalb der Schule. Schule wird während eines ständig wachsenden Teils des Lebens zum Gefängnis“ (Schulen helfen nicht, S. 152). Das meiste Lernen sei nicht das Ergebnis von Unterweisung. Es sei vielmehr das Ergebnis unbehinderter Teilnahme in sinnvoller Umgebung. „Die meisten Menschen lernen am besten, wenn sie ‚dabei sind’ (Entschulung der Gesellschaft, S. 51).“ Doch von den „sinnvollen Umgebungen“ würden Kinder und Jugendliche ferngehalten: „Wir wissen nichts mit denen anzufangen, die wir jetzt als ‚Kinder’ oder ‚Schüler’ bezeichnen und in die Schule schicken“ (Schulen helfen nicht, S. 32).

Dort würden junge Menschen vorwegentfremdet von Schulen, „die sie isolieren, gleichzeitig aber vorgeben, sie seien Erzeuger und Verbraucher ihres Wissens, das als Ware verstanden wird, die in der Schule auf den Markt gebracht wird. Die Schule macht aus der Entfremdung eine Vorbereitung aufs Leben und beraubt damit die Erziehung der Wirklichkeit und die Arbeit ihres schöpferischen Charakters. Indem die Schule die Notwendigkeit lehrt, belehrt zu werden, bereitet sie auf die entfremdende Institutionalisierung des Lebens vor. Haben die Menschen diese Lektion einmal gelernt, so verlieren sie jeden Anreiz, in Unabhängigkeit heranzuwachsen; sie finden Bezüglichkeit nicht länger reizvoll und verschließen sich den Überraschungen, die das Leben bietet, wenn es nicht durch institutionelle Definition vorausbestimmt wird“ (Entschulung, S. 58).

Doch wahre Bildung mache uns gerade für Überraschungen bereit. Bildung bedeute „die Ausbildung eines unabhängigen Lebensgefühls und eine Bezüglichkeit, die Hand in Hand damit geht, dass die im Zusammenleben der Menschen aufbewahrten Erinnerungen zugänglich und nutzbar gemacht werden“. Orte der Bildung seien Stätten der Begegnung, an denen „andere mich mit ihrer Freiheit überraschen und mir die eigene Freiheit bewusst machen“ (Schulen helfen nicht, S. 21).

Ich kann mich nur an ganz wenige Situationen erinnern, in denen ich mich während meiner Schulzeit mit Mitlernenden über inhaltliche Themen ausgetauscht habe. Trotzdem beherrschte das Thema „Schule“ viele unserer Gespräche. Wenn ich heute jungen Menschen zuhöre, beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln, dann sind auch sie oft mit Schule beschäftigt. Doch es geht nie um Lerninhalte, sondern fast immer um das Bewertungssystem: um ungerechte Beurteilungen, schwierige oder einfache Tests, um Lehrende, bei denen man gute oder eher schlechte Noten bekommt. Ein weiteres beliebtes Thema sind die kleinen Siege in den Machtkämpfen mit den Lehrenden, die ja immer auch Bewacher und Behinderer persönlicher Bewegungs- und Freiheitswünsche sein müssen, eine Rolle, die mir meinen Beruf als Lehrerin trotz aller Liebe zu den jungen Menschen und manchen Unterrichtsthemen immer auch zu etwas Beängstigendem und Verhasstem machte.

Schon als Jugendliche hatte ich das Gefühl, dass die Schule mir Bildungsgüter, die mir am Herzen lagen, kaputt machte, beispielsweise wenn wir Bücher durchnahmen, die ich schon gelesen hatte und die mir etwas bedeuteten. Das Schulwesen habe die Bildung entwürdigt, schreibt Illich. Denn zum einen kann man sie dort nicht bekommen, ohne sich gleichzeitig „mit fürsorglicher Aufsicht, unfruchtbarem Wettbewerb und Indoktrination“ abzufinden (Schulen helfen nicht, S. 20). „Wir haben uns angewöhnt, unser Bedürfnis nach mehr Lernen mit der Forderung nach immer längerem Einsperren in Klassenzimmern zu identifizieren. Anders ausgedrückt: wir haben die Bildung zusammen mit aufsichtlicher Fürsorge, Berechtigungswesen und dem Wahlrecht verpackt und das alles eingewickelt in die Belehrung über christliche, liberale oder kommunistische Tugenden“ (Schulen helfen nicht, S. 125).

Zum anderen führt schulisches Lernen uns weg von qualitativem hin zu quantitativem Denken: „Die institutionalisierten Werte, welche die Schule einimpft, sind quantitativer Art. Die Schule führt junge Menschen in eine Welt ein, in der alles messbar ist, auch ihre Phantasie und sogar der Mensch selber. Nun ist aber persönliches Wachstum nicht eine messbare Größe. Es ist ein Heranwachsen zu diszipliniertem Nonkonformismus […] Menschen, die auf das richtige Maß heruntergeschult worden sind, lassen sich ungemessene Erlebnisse entgleiten. Für sie wird, was sich nicht messen lässt, zweitrangig und bedrohlich. Sie brauchen ihrer schöpferischen Kraft nicht mehr beraubt werden. Durch Unterweisung haben sie verlernt, das Ihrige zu tun oder sie selber zu sein. Sie schätzen nur noch, was gemacht worden ist oder gemacht werden könnte“ (Entschulung, S. 52). Ein Wachstum jedoch, das man als endlosen Konsum und immerwährenden Fortschritt begreife, könne niemals zur Reife führen.

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