Illichs Engagement für andere Möglichkeiten des Bildungserwerbs hatte zunächst viel damit zu tun, dass er die hohe wirtschaftliche Belastung beim Aufbau von Schulsystemen nach westlichem Muster in Entwicklungsländern wahrnahm. Vor allem empörte ihn die Ungerechtigkeit, dass die ganze Bevölkerung dafür bezahlen musste, während nur ein verschwindend kleiner Teil in den Genuss dieser Bildungsangebote kam. Und die Herausgefallenen oder Abgewiesenen wurden in den wenigen Jahren ihres Schulbesuchs auch noch mit dem Glauben infiziert, dass sie selbst an ihrer zukünftigen Unterlegenheit schuld seien.
Illichs Vorschläge gehen daher an vielen Stellen vom kleinen Bildungsetat in armen Ländern aus. Dieser Etat würde nämlich genügen, „um einer großen Zahl von Kindern und Erwachsenen Jahr für Jahr einen Monat intensiver Bildung zu ermöglichen“, außerdem würde er auch noch für die Verteilung von pädagogischen Spielen an die Familien reichen sowie für wiederkehrende Abschnitte einer intensiven Lehrlingsausbildung. Illich wünscht sich, „dass jeder Puertoricaner das Recht auf einen gleichen Anteil am Bildungsbudget hat. Das ist etwas ganz anderes und viel Konkreteres als das bloße Versprechen eines Platzes in der Schule“ (Schulen helfen nicht, S. 18/19). Er denkt über eine Art Grundrecht nach, nach dem jede Person eine genaue Vorstellung davon hat, welche Mittel für Bildungszwecke ihr zustehen und wie sie sich diese verschaffen kann. An anderer Stelle spricht er von einer „Bildungskreditkarte“ in der Hand jedes Staatsbürgers (Schulen helfen nicht, S. 134 u. 153).
Statt Kinder und Jugendliche viele Jahre ihres Lebens in Klassenzimmern einzusperren und weitgehend von der Welt fernzuhalten, möchte er die pflichtmäßige Schulzeit radikal auf ein bis zwei Monate jährlich verkürzen, doch dann soll sich diese Art formeller Bildung über die ersten zwanzig oder dreißig Jahre im Leben jedes Menschen erstrecken. In der übrigen Zeit müsse auch noch Raum für Muße bleiben und Zeit, um eigenen Erkenntnissen nachzugehen. Illich möchte die Schulpflicht also keineswegs ganz abschaffen, sondern sie in gewisser Weise sogar ausweiten. Dabei denkt er neben ansprechenderen Bibliotheken auch an eine subventionierte Umgestaltung industrieller Anlagen und anderer Arbeitsplätze, um dort ebenfalls Lernmöglichkeiten zu schaffen. Fabriken sollten sich zudem verpflichten, in der arbeitsfreien Zeit als Ausbildungsstätten zu dienen (Schulen helfen nicht, S. 32 und 133). Die bildende Wirkung aller Institutionen müsse wieder zunehmen. Dafür müssten wir lernen, „die soziale Bedeutung von Arbeit und Freizeit daran zu messen, wie viel Nehmen und Geben in puncto Bildung sie ermöglichen“ (Entschulung der Gesellschaft, S. 37).
Obwohl Illich 1970 noch nichts von den ungeheuren Bildungsmöglichkeiten des Internets wissen konnte, geht er davon aus, dass die Technik bereitstehe, „um entweder Unabhängigkeit und Lernen oder Bürokratie und Lehren zu fördern“ (Entschulung S. 85). Die Technik könne uns Zugang zu jeder Art von „Bildungsgegenständen“ verschaffen. Bildungsgegenstände sind erstens „Dinge und Verfahren“, über die wir durch direkte Anschauung etwas lernen können, zweitens „Fertigkeitenbörsen“ mit den entsprechenden Bildungsgutscheinen und drittens eine „Lernpartner-Vermittlung“ bzw. „Nachweisdienste für Erzieher aller Art“. Statt mehr Bildungstrichtern bräuchten wir mehr Bildungsgeflechte. Solche Geflechte stehen uns heute in großem Maße zur Verfügung, unter anderem können auch soziale Netzwerke uns Zugang zu zahlreichen Bildungsmöglichkeiten verschaffen. „Würde man die jungen Menschen vom frühesten Alter an dazu anregen, andere zu treffen, zu beurteilen und auszuwählen, so würde damit für ihr ganzes Leben ihr Interesse daran geweckt, sich für neue Bemühungen neue Partner zu suchen“ (Entschulung, S. 98/99).
Ich bin sicher, dass die Umsetzung von Illichs Vorschlägen, bzw. ihre Erprobung und Weiterentwicklung, mehr Menschen mehr Bildung ermöglichen könnte, ohne dass dies eine große wirtschaftliche Belastung wäre. (Für ihn ist unser jetziges Bildungssystem eine riesige Verschwendung – an Geld, an Lebenszeit, an menschlichem Potential). Was es so schwer macht, Illichs Ideen überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist die Tatsache, dass Schule, die wir mit Bildung gleichsetzen, in ihrer jetzigen Form aus unserem Denken und Erleben einfach nicht wegzudenken ist. Vor allem können wir uns nicht vorstellen, wo die vielen jungen Menschen dann hin sollen, die jetzt in Schulen gepackt werden. Und natürlich muss sich einiges ändern, damit junge Menschen an vielen anderen Orten einfach „dabei sein“ können. Doch dies könnte unseren verknöcherten gesellschaftlichen Institutionen nur gut tun.
Ich denke, dass an dieser Stelle unsere Vorstellungskraft genauso versagt wie bei der ersten Konfrontation mit der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens, die vor etwa zehn Jahren auch noch als vollkommen verrückt galt und inzwischen von immer mehr Menschen als durchaus realisierbare Möglichkeit betrachtet wird. In mancher Hinsicht hängen beide gesellschaftlichen Umgestaltungen auch zusammen. Denn damit ein Bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren kann, brauchen wir ein anderes Bildungssystem, das es immer mehr Menschen ermöglicht, ihre Bildung selbst in die Hand zu nehmen, um ihr eigenes kreatives Potential zu entwickeln. Es sollte Menschen zum lebenslangen Lernen ermutigen, anstatt ihnen wie jetzt durch schulische Auslese niedrige oder höhere Lebenschancen zuzuteilen, für die sie sich dann auch noch selbst verantwortlich fühlen, was den Zurückgewiesenen die ursprünglich bei allen Menschen vorhandene Freude am Lernen gründlich austreibt, oft für ihr ganzes Leben.
Wie viel Wut und Selbsthass die Zurückweisung durch unser Schulsystem bei einzelnen Menschen bewirken kann, weiß ich aus meiner Arbeit mit Schulversagern. Sehr viele Menschen tragen ihr Leben lang Ressentiments gegen alles, was mit Bildung zu tun hat, mit sich herum. Dass Amokläufe in Schulen oder anderen Bildungseinrichtungen stattfanden und dass es oft schulisch Gescheiterte sind, die sich terroristischen Gruppen anschließen, ist ebenfalls ein Hinweis darauf, dass die Schule als Zuteilungssystem für Lebenschancen vieles von dem wieder zerstört, was sie durch die dort vermittelten Inhalte an Bildung vermitteln möchte. Die Schule berühre uns tief innerlich, schreibt Illich. Sie halte die Menschen ihr ganzes Leben lang fest oder sie sorge dafür, dass sie in eine andere Institution hineinpassen. Entschulung sei deshalb die Grundvoraussetzung jeder Bewegung für die Befreiung des Menschen. Und: „Jeder von uns ist persönlich für seine Entschulung verantwortlich, und nur wir selbst haben die Macht, es zu tun“ (Entschulung, S. 58 u. 59).
Vieles ist in den letzten 45 Jahren seit der Veröffentlichung der hier besprochenen Bücher an unserem Schulsystem verändert worden, um die Auslesefunktion etwas abzumildern, indem sie auf einen späteren Zeitpunkt im Leben der Lernenden verlegt wird, vieles ist auch geschehen, um die Schulen etwas mehr der Welt gegenüber zu öffnen. Besonders Privatschulen und Schulversuche haben Möglichkeiten der Öffnung erprobt. Ihre Erfahrungen können wir nutzen, wenn wir eine grundlegende gesellschaftliche Entschulung in Illichs Sinn anstreben. Auf jeden Fall sollten wir unsere Kräfte nicht mehr in den seit Jahrzehnten gleichen bildungspolitischen Debatten und Reformen zu etwas mehr oder weniger an Auslese oder Öffnung verausgaben, die auch zur Zeit wieder von populistischen Bewegungen genutzt werden, sondern endlich einen Schritt weiter gehen in Richtung auf ein Bildungssystem, das statt an selbstunsicheren Konsumenten wirklich an demokratischen Staatsbürgern interessiert ist.
Ich kann als Schulversager mit zwei Berufsausbildungen, Weiterbildungen, informelles Studieren etc. dem Artikel nur zustimmen. Bei einer Aufteilung eines Bildungsbugets sollte dies allerdings alle Menschen betreffen. Gerade hier in Deutschland gibt es genügend Beispiele von Bildungsverhinderung. Weiterbildungen, Umschulungen werden nicht bezahlt insbesonders nicht von der Agentur für Arbeit. Unternehmen, auch im sozialen Bereich, geben nicht mal unbezahlte Freistellungen für Weiterbildungen. Von Finanzierungen mal ganz abgesehen. Die Annerkennungen von Berufs und Studienabschlüßen aus anderen Ländern sind nur schwer zu erlangen und häufig mit unbezahlten oder niedrig entlohnten Praxistätigkeiten möglich. Bachelor Studiengänge sind eingeführt worden, die aber auch keine guten Berufsmöglichkeiten geben, bei niedriger Bezahlung. Das ganze Schulwesen ist so aufgestellt, das die Klassengrößen, die Betreungsmöglichkeiten zu gering sind um Anderslernende oder Nachholbedürftige zu fördern. Privatschulen und private Weiterbildungen zeigen die Ungleichbehandlung von Wenigverdienern aus.Der Zusammenhang mit sozialer-, geschlechtlicher-, Alters-, Herkunfts-Diskriminierung ist unübersehbar.Die Ablehnung von bedingungslosen Grundeinkommen. die Besteuerung, die Entdemokratisierung in Gesellschaft und Betrieben, TTiP, Ceta, all das zeigt wie eine Elite mit den Massen umgeht.
Liebe Dorothee,
nachdem ich nun Deine beiden weiteren Beiträge gelesen habe, brauche ich eigentlich gar keinen Kommentar mehr zu schreiben – denn meine Einwürfe haben sich dadurch erledigt. Ich finde diese drei Blogpost sehr inspirierend und sie stoßen mich an, über etwas nachzudenken, was mich so noch nie beschäftigt hat, sie machen mir neue Denk-Türen auf. Reizvoll wäre es, einmal in größerem Kreis darüber zu sprechen oder vielmehr zu hören und nachzudenken. Und es wäre schön, einfach mal mit anderen Frauen zu spinnen, wie so ein anderes Bildungssystem in der Praxis aussehen könnte. Ich bin gespannt, ob Du dieses Thema noch weiterverfolgst.
Ivan Illich gehört(e) sicher zu den meistzitierten Schulkritikern überhaupt. Er sprach deutliche, unmissverständliche Worte; seine Rezepte sind recht simpel und werden daher auch gern weiter nachgebetet. Schade, dass sie keinen Anlass bieten, weiterzudenken… Ich frage mich angesichts der Kritik nämlich schon, warum sich in den letzten 50 Jahren kaum etwas verändert hat. Kann es sein, dass es gar keine gangbare Alternative zur Schule gibt? – wie genau sollte eine „Entschulung“ der Gesellschaft denn vollzogen werden? Wie sollte man eine Institution abgeschaffen können? Schade, dass das „Kritisieren“ offenbar so leicht ist und immer wieder so wenig geeignet ist, wirklich weiterzuhelfen. Wie wäre es, wenn wir (z.B. in Anlehnung an Karl Popper) den Optimismus zur moralischen Pflicht machen würden und die Stärken der Schule(n) stärken, damit die bereits in den 1960er Jahren begonnene „Schul-Bashing“-Spirale mal endlich ein Ende hat!