Kulturverlust im öffentlichen Raum 2: Rücksichtnahme

Neulich berichtete meine Zeitung in einer kleinen Notiz von einem Todesfall, der mit meinem Thema zu tun hat: Ein Radfahrer, der wahrscheinlich zu schnell und zu nah an einem Fußgänger vorbeifuhr, stürzte, weil dieser den Ellbogen herausstreckte, ob mit Absicht oder aus Versehen, erfahren wir nicht. Der Radfahrer stand schnell wieder auf und schlug den Fußgänger ins Gesicht. Dieser fiel dadurch so unglücklich hin, dass er an den Folgen seiner Verletzungen starb.

Diese Nachricht jagte mir einen ziemlichen Schrecken ein. Denn schon oft, wenn ich mal wieder zu Tode erschrocken war, weil ein Radfahrer in rasendem Tempo und so dicht an mir vorbeifuhr, dass er mich fast berührte, half mir gegen meine ohnmächtige Wut die Phantasie, dass ich ihn nur leicht anstupsen müsste, damit er von seinem hohen Ross herunterfällt (und sich ordentlich weh tut dabei).

Beide Beispiele zeigen, wie die Unfallgefahr und die Gewaltbereitschaft durch fehlende Rücksichtnahme potentiell steigen – bei mir Letzteres zum Glück nur in der Phantasie.

Man könnte auch eine falsche Verkehrspolitik dafür verantwortlich machen, dass so etwas passiert und dass Fahrradunfälle in letzter Zeit sprunghaft zugenommen haben. Denn damit der Autoverkehr nicht beeinträchtigt wird und um den RadfahrerInnen mehr Sicherheit zu bieten, müssen FußgängerInnen sich ihre Wege immer öfter mit RadlerInnen teilen, oft auch dann, wenn es offiziell – wie bei Wanderwegen – immer noch reine Fußgängerwege sind. Zusammen mit der Rücksichtnahme ging nämlich auch die Bereitschaft verloren, sich an Regeln zu halten. Seither ist das Bummeln in der Stadt und das Wandern in stadtnahen Wäldern leider keine Erholung mehr. Man könnte auch von einer umfangreichen Enteignung der zu Fuß Gehenden im öffentlichen Raum sprechen.

Als Radfahrerin bin ich natürlich froh, wenn ich nicht auf der Straße fahren muss. Bei einer Radtour in Schleswig Holstein fiel mir auf, dass RadfahrerInnen generell in den Ortschaften auf den Gehwegen fahren durften, weil die Radwege dann immer aufhörten. Es war deutlich, dass das den dort lebenden Menschen nicht gefiel, auch wenn ich sehr rücksichtsvoll war und meistens abstieg, wenn mir Menschen entgegen kamen. Politische Entscheidungen für gemeinsame Fuß- und Radwege setzen voraus, dass die Stärkeren – und das sind in diesem Fall die RadlerInnen – auf die Schwächeren Rücksicht nehmen, dass sie also bremsen und notfalls auch mal absteigen, anstatt die FußgängerInnen durch lautes Klingeln bei unverminderter Geschwindigkeit zu einem Sprung auf die Seite zu zwingen, was jedes Mal mit einem ziemlichen Schrecken verbunden ist. Eine Verkehrspolitik, die gemeinsame Fuß- und Radwege favorisiert, macht den Fehler, von einer noch vorhandenen Kultur der Rücksichtnahme auszugehen, denn nur damit kann das funktionieren. Ohne eine Kultur der Rücksichtnahme sind gemeinsame Rad- und Fußwege vor allem für ältere FußgängerInnen kaum noch gefahrlos begehbar.

Mit dem Verlorengehen der Fähigkeit und der Bereitschaft zur Rücksichtnahme hat es auch zu tun, dass FußgängerInnen nur noch selten ausweichen, wenn ihnen andere FußgängerInnen entgegenkommen. Hier könnte man auch von einer Kulturveränderung sprechen. Denn an die Stelle von Höflichkeit und Rücksichtnahme ist das Ideal der Coolness getreten, und das bedeutet, sich durch nichts und niemand vom eigenen Weg abbringen zu lassen, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen und einfach nur stur sein Ding zu machen. Auszuweichen oder auch nur die Geschwindigkeit zu reduzieren, würde bedeuten, Verlierer und Opfer zu sein, und das muss unbedingt vermieden werden. Inzwischen habe ich festgestellt, dass es nicht schwer zu erlernen ist, sich auf diese Weise durchzusetzen. Irgendwann hatte auch ich genug davon, von den Entgegenkommenden oder kurz vor mir meinen Weg Kreuzenden einfach weggedrängt zu werden wie von Panzern und ständig in Schlangenlinien um die mir entgegen Kommenden herumlaufen oder gar auf die Straße ausweichen zu müssen. Wenn auch ich mir das Ausweichen abgewöhne, wird jede Begegnung zu einem kleinen Machtkampf darüber, wer den oder die andere zum Ausweichen zwingt. Wenn ich mich stark fühle, kann mir das sogar hin und wieder Spaß machen, doch meistens ist es unerfreulich und anstrengend. Und da es nicht leicht fällt, vom Kampf- in den Rücksichtnahmemodus umzuschalten, erschrecke ich dann plötzlich über mein eigenes rücksichtsloses Verhalten. Immer öfter kommt es auch zu schmerzhaften Rempeleien oder zu Situationen, die schnell in Gewalt umschlagen können.

Dass Eltern damit aufhörten, ihren Kindern Rücksichtnahme beizubringen, beobachtete ich schon vor mehr als zwanzig Jahren in meiner damaligen Nachbarschaft. Auch in der Schule war diese Veränderung nicht zu übersehen. Natürlich musste das Erziehungsmodell, mit dem meine Generation aufgewachsen ist, durch ein anderes abgelöst werden, bei dem die Würde und körperliche Unversehrtheit von Kindern respektiert und bei dem sie vor Ausbeutung geschützt werden. Doch nun kippte das vielfach in das andere Extrem, „Kinder an die Macht“ war ein Slogan dieser Zeit. In der Folge konnte ich beobachten, wie Eltern, vor allem Mütter, zu einer Art Bediensteter ihrer Kinder wurden, während früher wir Kinder den Eltern zu Diensten sein mussten. Selbstbestimmung war von den 70er Jahren an das höchste Erziehungsziel, das Wahrnehmen und Respektieren der Bedürfnisse anderer wurde dagegen immer weniger eingeübt. Als kinderfeindlich beschimpft zu werden, riskierten schließlich alle, die den Kindern vermitteln wollten, dass sie nicht allein auf der Welt sind, dass es Ruhezeiten gibt, dass sie zwar auf den Gehwegen mit ihren Kinderrädern fahren dürfen, aber dass es nicht in Ordnung ist, wenn sie laut klingelnd die FußgängerInnen verscheuchen. Oft wurde ich von Müttern angegriffen, wenn ich die Kinder freundlich um mehr Rücksichtnahme auf dem Gehweg oder darum bat, mit irgendeinem Lärm aufzuhören, z.B. als ein Kind immer wieder gegen die Metall-Einzäunung des Kinderspielplatzes unter meinem Fenster schlug, weil das so schön laut dröhnte. Man könne den Kindern doch nicht alles verbieten, war hier das Argument der Mutter. Auch neulich habe ich es im Zug wieder erlebt, dass die Eltern ihre das ganze Abteil beschallenden Kinder auch noch bestärkten, sich von der Alten ja nichts sagen zu lassen. Wenn ich es mit Kindern allein zu tun habe, ist es meistens nicht schwierig, ihnen achtsameres Verhalten beizubringen. So fiel mir in der Schule beispielsweise auf, dass einige Kinder einfach nicht wussten, wozu Türklinken da sind, sondern nur gelernt hatten, Türen lautstark zuzudonnern. Manche Kinder wussten nicht, wie Leise-Reden oder gar Flüstern geht, und wir hatten viel Spaß dabei, dies spielerisch auszuprobieren.

Ich sehe einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verlust von Rücksichtnahme und der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihren Kindern auch mal um des guten Zusammenlebens mit anderen willen Grenzen zu setzen. Wo Eltern ihren Kindern soweit irgend möglich die Führung überlassen – manche meiner Bekannten fragen ihre Kinder richtiggehend um Erlaubnis, wenn sie mal weggehen oder bei einem Kaffeeplausch etwas länger bleiben wollen – , würde das ja wahrscheinlich auch zu Konflikten führen, und um diese auszutragen, fehlt es in vielen Familien an Zeit und Kraft, da die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ohne totale Überforderung ja, wie inzwischen allgemein bekannt ist, ein neokapitalistisches Märchen ist. Konflikte durchzustehen kostet Kraft. Wenn ich müde bin, lasse ich auch alles lieber laufen.

Rücksichtnahme ist unbequem, sie macht Mühe. Es ist in Bus und Bahn bequemer, wenn der Platz neben einem leer ist, als zu zweit nebeneinander zu sitzen. Deshalb ist es inzwischen üblich, die Tasche neben sich zu stellen oder im Zug den Koffer. Da vor allem ältere Menschen sich scheuen, anderen Mühe zu machen, indem sie darum bitten, Tasche oder Koffer anders unterzubringen, was oft nur sehr widerwillig geschieht, stehen sie dann lieber. Auch ein überfüllter Bus oder Zug führt meiner Beobachtung nach nicht dazu, dass die mit Taschen belegten Plätze von sich aus frei gemacht werden.

Es macht auch Mühe, das Gepäck im Zug so unterzubringen, dass es die durch den Gang Gehenden nicht behindert. Also lässt man es „erst mal“ stehen und schaut ungerührt zu, wie die anderen Menschen sich vorbeiquetschen oder ihre Koffer hochheben müssen, um über das Hindernis zu kommen. Es macht auch Mühe, den Müll, der sich bei einer längeren Zugreise angesammelt hat, in den Flur in die entsprechenden Müllbehälter zu bringen. Schließlich gibt es ja dafür Personal. Da mich der Müll stört, bin ich es inzwischen gewöhnt, zuerst meinen Platz im Zug aufräumen zu müssen. Mühe würde es auch machen, kleinen Kindern die Schuhe auszuziehen, bevor man ihnen erlaubt, auf die Sitze zu steigen, um besser hinausschauen zu können. Da kleinen Kindern schon lange von vielen Erwachsenen erlaubt wird, mit ihren Straßenschuhen auf die Sitze zu klettern – es sind ja nur Kinderschuhe! –, ist es nicht verwunderlich, dass auch Jugendliche und manchmal sogar Erwachsene ihre Schuhe an den Polstern der gegenüberliegenden Sitze aufstellen. Schließlich sitzt man so bequemer.

Dass Rücksichtslosigkeit und Bequemlichkeit zusammenhängen, fiel mir eines Tages an den Fahrradständern auf. Auch wenn das eigene Rad einen Fahrradständer hat, wird der nicht ausgeklappt, sondern das Rad einfach an den Fahrradbügel angelehnt. Dadurch kippt es dann gegen das Rad gegenüber und verheddert sich mit ihm, so dass es für die andere Person mehr Mühe macht, ihr Rad wieder freizukriegen. Diese Art von Bequemlichkeit hat auch mit der Gleichgültigkeit und Wegwerfmentalität gegenüber Dingen zu tun, da das Pflegen und Erhalten von Dingen nicht eingeübt wurde.

So ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die es selbstverständlich findet, dass die anderen Menschen sich in erster Linie um ihr Wohl und ihre Bequemlichkeit kümmern, dass Eltern sich beispielsweise vor ihnen abstrampeln, während sie als kleine Paschas und Prinzessinnen bequem im Fahrradwagen sitzen. Leider hat die Dominanz der Richtung der Frauenbewegung, die sich eine Verbesserung ihrer Lebensumstände durch die Angleichung an das männliche Modell erhoffte, auch dazu geführt, dass der Benachteiligung, die viele Frauen meiner Generation darin sahen, dass sie ihren Müttern im Haushalt helfen mussten und ihre Brüder nicht, damit entgegengearbeitet wurde, dass die Mädchenerziehung an die Jungenerziehung angeglichen wurde, anstatt umgekehrt Jungen ebenfalls früh zur Mitarbeit anzuregen. Hierbei wäre natürlich auch ein väterliches Vorbildverhalten hilfreich gewesen.

Mit meiner Kritik an der fehlenden Erziehung zur Rücksichtnahme möchte ich keineswegs idealisieren, wie ich selbst aufgewachsen bin. Während heute eher erwartet wird, dass man Kinder beim In-der-Schlange-Stehen vorlässt – wodurch sie m.E. auch wieder etwas Falsches lernen, nämlich, dass Regeln für sie nicht gelten – musste ich als Kind im Laden oft länger warten, mit dem Argument, Kinder hätten jüngere Beine. Wenn ich im Weg stand, wurde ich nicht etwa gebeten, den Weg freizumachen, sondern wurde angeschrien und als rücksichtsloser „Stoffel“ beschimpft. Als „Stoffel“ wurden vor allem Menschen bezeichnet, die andere durch Gedankenlosigkeit unnötig behinderten. Ich murmle dieses Wort manchmal, wenn direkt vor mir jemand die Seite wechselt, so dass ich abrupt anhalten muss, mir die Tür ins Gesicht fallen lässt oder oben an der Rolltreppe mit Trolley stehenbleibt, so dass die Hochkommenden nicht von der Rolltreppe runter können. Auch wenn jemand einsteigt, bevor alle ausgestiegen sind oder sich beim Einsteigen oder beim Anstehen vordrängelt, fällt mir dieses Schimpfwort ein. Es war früher selbstverständlich, dass Kinder ihren Platz in vollen Zügen und Bussen hergeben oder sich zumindest einen Platz teilen mussten. Kein Kind hätte sich geweigert, für Ältere, Behinderte, für schwangere Frauen oder Frauen mit kleinen Kindern sofort aufzustehen. Dafür sorgte eine sehr moralische Erziehung, die letztlich mit Prügeln unterstrichen wurde. Während Kinder heute keine Verlierer sein wollen, wollten wir keine unhöflichen „Stoffel“ sein. Diese wurden kollektiv verachtet.

Ich bin aber sicher, dass Rücksichtnahme auch auf freundliche Weise und ohne Abwertungen gelehrt werden kann, doch dies erfordert Zeit, Geduld und Mühe. Um sich in der Familie diese Mühe und die damit verbundenen Konflikte zu ersparen, wird die Erziehung zu sozialem Verhalten auf Kindergarten und Schule verschoben. Professionelle PädagogInnen sollen sie leisten, Erzieherinnen in der Kita, Lehrkräfte in den Schulen. Doch die sind überfordert, all das Versäumte nachzuholen, bei viel zu vielen Kindern gleichzeitig. Bei dem Lärm von so vielen Kindern, die nicht wissen, wie Leise-Reden geht, weil nie jemand mit ihnen Flüstern geübt hat, können sie sich selbst oft auch nur durch Schreien Gehör verschaffen, sind also nicht unbedingt Vorbild für freundliches, friedliches, ruhiges Zusammenleben.

Ich kann nicht darüber hinwegsehen, dass für das Verlorengehen von Rücksichtnahme im öffentlichen Raum und ihre Folgen neben der Verschlechterung des gesamtgesellschaftlichen Klimas durch Sozialabbau und Wettbewerbsdruck auch falsche Weichenstellungen der Frauenbewegung verantwortlich sind. Und da meine Kritik daran nicht laut genug war – sie beschränkte sich auf Äußerungen in Vorträgen und Büchern mit geringer Auflage –, kann auch ich mich nicht ganz von der Verantwortung dafür frei sprechen.

Zum einen wurden „ritterliches“ und „Gentleman“-Verhalten abgelehnt, weil es als Heuchelei erlebt wurde und außerdem eine Vorstellung von Frauen als Schwache und Hilfsbedürftige unterstrich, das mit der Realität dessen, was viele von ihnen täglich leisten mussten, nichts zu tun hatte. Im Emanzipations- und Gleichstellungsdenken mussten die Frauen ja zeigen, dass sie in allem genauso (gut, stark, klug) waren wie Männer, dass sie also ihren Koffer selbst ins Gepäcknetz heben und ihre Reifen selbst wechseln konnten. Hilfsbereite Männer mussten nun damit rechnen, eine unfreundliche Abfuhr zu bekommen. Hätten wir Feministinnen damals erkannt und offensiv vertreten, dass Gentleman-Verhalten eine kostbare zivilisatorische Leistung war, ein Stück männliche „Anpassung“ an traditionell Frauen zugeschriebene Verhaltensweisen, die das Zusammenleben für alle schöner und leichter machten, hätten diese Verhaltensweisen von der Geschlechterfestlegung befreit und weiter erhalten bleiben können. Ich helfe gern anderen in den Mantel, auch Männern, und halte gern Türen auf.

Die andere falsche Weichenstellung habe ich schon erwähnt, die Anpassung der Mädchenerziehung an die ehemalige Jungenerziehung. In Kinderbüchern und Kindersendungen im Fernsehen, aber auch in hochgelobten Filmen für Erwachsene wurden nun die „bösen Mädchen, die überall hinkommen“ als Vorbild hingestellt. Mit fragwürdigem Erfolg: Auch wenn die weibliche Kriminalitätsrate immer noch viel niedriger ist als die männliche, ist sie in den letzten Jahrzehnten doch deutlich gestiegen. Wäre stattdessen die Jungenerziehung an die ehemalige Mädchenerziehung angepasst worden, indem auch sie zu achtsamem Verhalten gegenüber Menschen und Dingen angehalten worden wären, wozu Mithilfe bei der Haus- und Familienarbeit ein gutes Übungsfeld ist, wäre unser heutiges Zusammenleben im öffentlichen Raum wohl friedlicher und freundlicher. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den vollständigen Verlust der Kultur der Rücksichtnahme noch zu verhindern.

Kulturverlust

Ich wohne in einem kleinen Dorf in Großstadtnähe, mit einem dörflich-konservativen Kern und vorstadtähnlichen Siedlungen drum herum. Als wir vor 15 Jahren hierherzogen, fiel mir sofort positiv auf, dass die Menschen sich noch fast alle grüßten. Inzwischen tun das nur noch die älteren Leute. Die nach uns Zugezogenen haben diese Form niederschwelliger Kontaktaufnahme nicht mehr übernommen, und den meisten in dieser Zeit großgewordenen Kindern wurde sie nicht mehr beigebracht, auch nicht von den Eltern, die nach wie vor selbst grüßen. (Damit Kinder das Grüßen lernen, müssen sie sehr oft dazu aufgefordert werden, was ziemlich mühsam ist). Während die Menschen in unserer Straße sich zu Beginn noch alle mit Namen kannten und Neuzugezogene sich den anderen vorstellten, habe ich heute mit einigen noch kein Wort gewechselt und weiß noch nicht einmal die Namen der inzwischen geborenen Kinder. Für mich ist das ein Beispiel für Kulturverlust im öffentlichen Raum, denn Grüßen und Sich-Vorstellen in der Nachbarschaft macht das Zusammenleben leichter und erfreulicher und erhöht damit das Wohlbefinden im Wohnungsumfeld. Bei meinen in den letzten Jahren dazugekommenen Nachbarn – überwiegend jungen Familien – habe ich den Eindruck, dass sie daran keinerlei Interesse haben.

 

Vor ein paar Tagen ging ich in meinem Dorf auf einem nicht sehr breiten Fußweg am Bach entlang zum Briefkasten. Da kamen mir drei etwa siebenjährige Kinder entgegen. Sie gingen nebeneinander und reagierten überhaupt nicht darauf, dass ich ihnen entgegenkam. Obwohl ich so weit wie möglich nach rechts auswich, prallte das Mädchen am Rand recht heftig gegen mich. Relativ freundlich belehrte ich die Kinder, sie müssten schon zur Seite gehen, wenn ihnen jemand entgegenkomme. Als sie weit genug entfernt waren, um vor eventuellen Reaktionen meinerseits sicher zu sein, drehten sich die drei nochmals um, und eines brüllte: „Geh du doch auf die Seite!“

Es geht mir hier nicht in erster Linie um die Respektlosigkeit der Kinder gegenüber einer alten Frau – obwohl das auch eine große Veränderung gegenüber der Zeit meines Aufwachsens darstellt –, sondern um den Verlust der bis vor wenigen Jahrzehnten geltenden Selbstverständlichkeit, anderen auf der Straße auszuweichen, Schwächeren den Vortritt zu lassen, anderen die Tür aufzuhalten und dergleichen, also insgesamt aufeinander Rücksicht zu nehmen, überhaupt andere Menschen im öffentlichen Raum wahrzunehmen und das eigene Verhalten entsprechend anzupassen.

Vor einigen Jahren sah ich bei einem Urlaub in einer türkischen Großstadt nach vielen Beinahe-Zusammenstößen schließlich das, worauf ich schon gewartet hatte: Auf einem Platz stießen zwei Männer heftig zusammen, weil keiner von seinem geraden Weg abwich. Ich überlegte damals, ob die von mir dort beobachtete Häufung solcher Situationen vielleicht etwas mit einer anderen geschichtlichen Entwicklung der Kultur des öffentlichen Raums zu tun haben könnte, der in muslimischen Ländern mit starker Geschlechtertrennung viel länger ausschließlich Männern vorbehalten war als in christlich geprägten patriarchalen Gesellschaften. Wenn Männer, Frauen und Kinder sich den öffentlichen Raum gleichberechtigt teilen müssen – so dachte ich –, ist die Entstehung einer Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme wahrscheinlich naheliegender. Ich dachte an die christliche Ritterkultur und das Ideal der Ritterlichkeit, an moralische Erzählungen, beispielsweise an Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, die wir in der Grundschule gelesen und nachgespielt hatten, wobei wir Kinder uns einig waren, wie dumm die Protagonisten dieser Geschichten waren, von denen keiner ausweichen und nachgeben wollte. Ich dachte auch an den lange selbstverständlichen Grundsatz „Frauen und Kinder zuerst (… und der Kapitän zuletzt“) bei Rettungsaktionen sowie an das „Gentleman“-Ideal. Über viele Generationen wurde eine durch solche Ideale geprägte, als europäisch geltende Kultur weitergegeben und musste bei jeder Generation immer wieder neu vermittelt und eingeübt werden. Inzwischen hat sich innerhalb von ein bis zwei Generationen bei uns mehr und mehr das Verhalten durchgesetzt, „cool“ seinen Weg fortzusetzen und auf keinen Fall auszuweichen, weil man ja schließlich kein „Opfer“ sein will. Und wenn fast niemand mehr ausweicht oder einem auch mal den Vortritt lässt, kommt man sich irgendwann dumm vor, es weiterhin zu tun. So nimmt rücksichtsloses Verhalten schnell überhand. Als ich vor einigen Jahren mit einer im Rollstuhl sitzenden Freundin in der Münchner Innenstadt unterwegs war, belehrte sie mich gleich zu Beginn, auf keinen Fall auszuweichen, sonst komme man mit dem Rolli nicht voran. Und ich war entsetzt, weil tatsächlich kaum jemand auf uns achtete oder gar Rücksicht nahm. Dieser Kulturverlust hat nichts mit äußeren Einflüssen zu tun, er ist „selbstgemacht“. Doch es besteht die Gefahr, dass für das undeutliche Gefühl, hier sei etwas Wesentliches dabei, vollends verloren zu gehen, nach äußeren Sündenböcken gesucht wird. Auf das Ideal der „Coolness“ und den Hintergrund für seine Entstehung werde ich in einem späteren Blogpost noch eingehen.

 

Auf dem oben erwähnten Fußweg am Bach entlang, der deutlich mit einem Fußgängergebotsschild gekennzeichnet ist, fahren inzwischen immer mehr Radfahrer ohne jegliches Unrechtsbewusstsein, d.h., sie fahren nicht etwa defensiv, sondern klingeln schon von weitem und erwarten, dass Fußgänger auf die Seite springen. Auch auf schmalen Wanderwegen ist das inzwischen üblich, obwohl das Radfahren dort (noch) verboten ist. Sogar auf städtischen Gehwegen fahren die inzwischen erwachsen Gewordenen ebenso rücksichtslos wie früher auf ihren Kinderrädern und erwarten ebenso wie damals, dass ihnen Platz gemacht wird. Manchmal sage ich dann: „Das ist hier kein Radweg“. Einmal bekam ich von einem ca. 40jährigen Mann die Antwort: „Halt’s Maul!“ und ein anderer aus derselben Altersgruppe, der mich und eine andere Frau beinahe umfuhr, antwortete auf unseren Protest, wir seien doch nur frustrierte alte Weiber und sollten uns nicht aufregen, es sei ja nichts passiert. Die meisten antworten allerdings freundlich: „Ja, ich weiß“, oder „Ja, ja!“ – und fahren in unverminderter Geschwindigkeit weiter. Das geschah einmal sogar an einer Engstelle, vor der ich eine ganze Weile warten musste, bis der Radfahrer sich durchgeschlängelt hatte. Auch dann fuhr er ungeniert auf dem Fußgängerweg weiter, obwohl er leicht auf die Straße hätte wechseln können.

Dass es ebenfalls ein Kulturverlust ist, der nicht nur die Sicherheit gefährdet, sondern auch das Zusammenleben erschwert, wenn Menschen sich nicht mehr an Regeln halten, fällt mir erst in letzter Zeit so richtig auf – und das nicht nur im Straßenverkehr. Es ist noch nicht so lange her, dass auch ich manche Regeln „sportlich“ übertrat und Spaß daran hatte. Und als einst Mitwirkende an der antiautoritären Bewegung gab es auch Zeiten, in denen mir sogar der Slogan „Legal, illegal, scheißegal“ Spaß machte. Erst jetzt merke ich, wie schnell manche Selbstverständlichkeiten verloren gehen, wenn Regeln nicht mehr beachtet werden, und wie anstrengend dadurch beispielsweise die Fortbewegung im öffentlichen Raum wird, vor allem für ältere Leute. So einfache Regeln, wie rechts aneinander vorbeizugehen oder dem fließenden Verkehr den Vortritt zu lassen, wenn man aus einer Einfahrt oder einem Hauseingang kommt, funktionieren plötzlich nicht mehr, was nicht nur gefährlich ist, sondern auch Aggressionen erzeugt, vor allem bei denen, die sich noch an Regeln halten und das von anderen ebenfalls erwarten.

 

Diese drei Bereiche von Kulturverlust, über die ich in nächster Zeit schreiben möchte, hängen insofern miteinander zusammen, als sie sich darauf auswirken, wie sich Menschen im öffentlichen Raum begegnen, wie sie einander wahrnehmen und einander Respekt und Wertschätzung entgegenbringen oder eben auch nicht. Wenn die Stimmung auf den Straßen und Plätzen unfreundlicher und tendenziell gewalttätiger wird, ist das etwas sehr Politisches, lange bevor es zu großen Demonstrationen oder anderen Ereignissen kommt, durch die mit Schrecken festgestellt wird, dass etwas gründlich schief gelaufen sein muss, obwohl scheinbar niemand etwas davon gemerkt hat.