Kulturverlust im öffentlichen Raum 1: Grüßen

Während Begrüßungen unter FreundInnen und Verwandten in den letzten 15 bis 20 Jahren herzlicher geworden sind – hier sind erfreulicherweise inzwischen Umarmungen oder zumindest Luft- oder Wangenküsse üblich – ist die Kultur, einander auch dann zu grüßen, wenn man sich kaum oder gar nicht persönlich kennt, immer mehr am Schwinden. In den Städten liegt das natürlich daran, dass es einfach zu viele Menschen sind, denen wir auf unseren Wegen begegnen, doch auch dort wäre es durchaus möglich, die Menschen zu grüßen, denen wir öfter begegnen, z.B. im Haus, in der Nachbarschaft oder an der Bushaltestelle, oder ihnen zumindest zuzunicken oder zuzulächeln. Gerade wenn ich fremden Menschen, weil es sehr voll ist, körperlich näher kommen muss, als es meinem Bedürfnis entspricht, beispielsweise in einem Bus oder auch im Kino, ertrage ich das sofort leichter, wenn ich mit „Hallo“ oder ein paar Worten Kontakt gemacht habe, und dann reagiere ich auch bei Drängelei und Rempeleien eher mit Humor als mit Aggression.

In meinem kleinen Dorf konnte ich in den letzten 15 Jahren zuschauen, wie die Kultur des Einander-Grüßens verlorenging. Während ich erfreut und überrascht war, dass so gut wie alle Menschen einander grüßten, als ich in dieses Dorf zog, sind es inzwischen immer mehr Bewohner, vor allem in den Neubauvierteln, die diesen Brauch nicht mehr übernommen haben. Und im ganzen Dorf sind es vor allem die Kinder, die nicht mehr gelernt haben, wie Grüßen geht. Sie reagieren befremdet und ratlos, wenn ich sie grüße, weil sie gar nicht wissen, was sie damit machen sollen. Wenn ich mit Eltern aus der Nachbarschaft manchmal ein paar Worte wechsle, stehen die Kinder daneben, als gehe es sie nichts an, was die Erwachsenen da tun. Und ich habe nicht den Eindruck, dass sie sich wohl dabei fühlen.

Mit dem Grüßen bekunde ich ein wohlwollendes Wahrnehmen anderer Menschen. Wenn Menschen einander grüßen, zeigen sie, dass sie aufeinander achten, dass sie einander achten. Wo ich gegrüßt werde, fühle ich mich mehr zuhause als dort, wo Menschen einander ignorieren, und ich habe auch ein größeres Sicherheitsgefühl. Das Grüßen ist eine Hilfe, um die Scheu zu überwinden, mit anderen in Kontakt zu treten, ein einfaches und niederschwelliges Kontakteröffnungsritual. Nach Wikipedia geht das Verb „grüßen“ auf das westgermanische „grotjan“ zurück, das „zum Reden bringen, sprechen machen“ bedeutet. Das gefällt mir sehr gut, denn es ist wohl das Wichtigste am Grüßen, dass es nach einem Gruß leichter fällt, miteinander zu sprechen. Bei neuen Nachbarn, die nicht grüßen und auch deutlich signalisieren, dass sie das nicht wollen, ist es viel schwieriger, auch einmal etwas anzusprechen, was unter Nachbarn halt geregelt werden muss, um Hilfe zu bitten oder gar einen Konflikt anzugehen.

Wo es möglich ist, miteinander zu sprechen, ist es zudem wahrscheinlicher, dass wir Konflikte ohne Gewalt lösen können. Denn Gewalt – so Hannah Arendt – „ist eigentlich die einzige Art menschlichen Handelns, die definitionsgemäß stumm ist; sie wird weder durch Worte vermittelt, noch arbeitet sie mit Worten. Bei allen anderen Arten politischer oder nicht-politischer Tätigkeit handeln wir in der Sprache, und unser Reden ist Handeln“ (H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 315). Hierzu fallen mir zwei Beispiele ein: Als ich letzten Sommer einen Termin bei einer Physiotherapeutin hatte und spät dran war, machte ich mein Rad an einer Stange vor deren Nachbarhaus fest, weil ich auf die Schnelle nichts anderes fand, wo ich mein Rad anschließen konnte. Eine Stunde später sah ich, dass jemand an meinem Rad die Luft herausgelassen hatte, auch die Ventildeckel waren weg. Ich war ziemlich sicher, dass hier die Nachbarn „gesprochen“ hatten, die sich wahrscheinlich schon öfter geärgert hatten, dass vor der Praxis kein eigener Fahrradbügel zur Verfügung gestellt wurde. Das zweite Beispiel stand vor Kurzem in der Zeitung: Nachdem es geschneit hatte, malte eine junge Frau mit dem Finger Herzen in den Schnee auf die Autodächer, an denen sie vorbei kam. Ohne etwas zu sagen, kam ein Mann auf sie zu und schlug sie.

Natürlich kann auch das Grüßen wie wohl jede kulturelle Errungenschaft für anderes genutzt werden als dafür, den Menschen das Zusammenleben zu erleichtern. Ich denke dabei nicht nur an den Zwang in totalitären Staaten, auf eine bestimmte Weise zu grüßen, um sich mit dieser Staatsform oder ihrem Führer einverstanden zu erklären, sondern auch an die Bedeutung des Grüßens, um Hierarchien zu bestätigen. Als Kind bekam ich großen Ärger, als ich einmal meinen Klassenlehrer auf der Straße nicht grüßte, weil ich der Meinung war, das sei nicht notwendig, da ich ihn kurz zuvor in der Schule schon gegrüßt hatte. Im Rahmen einer Prügelerziehung war natürlich auch das Erlernen des Grüßens mit Zwang verbunden. Andere zu grüßen war in diesem Kontext kein freies Geschenk mehr, kein freiwilliges Zum-Ausdruck-Bringen von Wohlwollen und Wertschätzung, sondern hier war streng geregelt, wer wen zuerst und auf welche Weise grüßen musste, wie früher an den Fürstenhöfen und dann beim Militär. Um die Unterwerfung oder die Überhöhung des zu Grüßenden zu verstärken, lernten Jungen, eine Verbeugung – einen „Diener“ – zu machen, Mädchen verkleinerten sich durch einen „Knicks“. Wahrscheinlich ist auch der Gruß „Grüß (dich) Gott“ eine Form, sich selbst klein zu machen, im Sinne von: „Mein Gruß ist nichts wert, aber ich wünsche dir, dass Gott dich stattdessen grüßt“.

Wo das Grüßen erzwungen und streng geregelt wurde, verkam es zu einer toten Form. Sicher ist das der Grund, warum etwa von 1968 an offensichtlich immer mehr Eltern entschieden haben, es ihren Kindern nicht mehr beizubringen. Dabei verschwand zwar das formale, inhaltsleere und erzwungene Grüßen, doch gleichzeitig leider auch das, was an dieser Kultur sinnvoll und erhaltenswert war.

Wenn im öffentlichen Raum immer weniger gegrüßt wird, wird der Gegensatz zwischen Fülle, Wärme und Glück im Privaten und der Kargheit im öffentlichen Raum größer. Das trifft vor allem die Menschen, die allein leben, die vielleicht auch keine Arbeit haben oder die in ihren privaten Beziehungen unglücklich sind. Sie erleben schließlich nirgends mehr, dass sie von anderen wahrgenommen werden, dass ihnen Wohlwollen entgegengebracht wird, dass sie geachtet sind und dazugehören.

 

 

Kulturverlust

Ich wohne in einem kleinen Dorf in Großstadtnähe, mit einem dörflich-konservativen Kern und vorstadtähnlichen Siedlungen drum herum. Als wir vor 15 Jahren hierherzogen, fiel mir sofort positiv auf, dass die Menschen sich noch fast alle grüßten. Inzwischen tun das nur noch die älteren Leute. Die nach uns Zugezogenen haben diese Form niederschwelliger Kontaktaufnahme nicht mehr übernommen, und den meisten in dieser Zeit großgewordenen Kindern wurde sie nicht mehr beigebracht, auch nicht von den Eltern, die nach wie vor selbst grüßen. (Damit Kinder das Grüßen lernen, müssen sie sehr oft dazu aufgefordert werden, was ziemlich mühsam ist). Während die Menschen in unserer Straße sich zu Beginn noch alle mit Namen kannten und Neuzugezogene sich den anderen vorstellten, habe ich heute mit einigen noch kein Wort gewechselt und weiß noch nicht einmal die Namen der inzwischen geborenen Kinder. Für mich ist das ein Beispiel für Kulturverlust im öffentlichen Raum, denn Grüßen und Sich-Vorstellen in der Nachbarschaft macht das Zusammenleben leichter und erfreulicher und erhöht damit das Wohlbefinden im Wohnungsumfeld. Bei meinen in den letzten Jahren dazugekommenen Nachbarn – überwiegend jungen Familien – habe ich den Eindruck, dass sie daran keinerlei Interesse haben.

 

Vor ein paar Tagen ging ich in meinem Dorf auf einem nicht sehr breiten Fußweg am Bach entlang zum Briefkasten. Da kamen mir drei etwa siebenjährige Kinder entgegen. Sie gingen nebeneinander und reagierten überhaupt nicht darauf, dass ich ihnen entgegenkam. Obwohl ich so weit wie möglich nach rechts auswich, prallte das Mädchen am Rand recht heftig gegen mich. Relativ freundlich belehrte ich die Kinder, sie müssten schon zur Seite gehen, wenn ihnen jemand entgegenkomme. Als sie weit genug entfernt waren, um vor eventuellen Reaktionen meinerseits sicher zu sein, drehten sich die drei nochmals um, und eines brüllte: „Geh du doch auf die Seite!“

Es geht mir hier nicht in erster Linie um die Respektlosigkeit der Kinder gegenüber einer alten Frau – obwohl das auch eine große Veränderung gegenüber der Zeit meines Aufwachsens darstellt –, sondern um den Verlust der bis vor wenigen Jahrzehnten geltenden Selbstverständlichkeit, anderen auf der Straße auszuweichen, Schwächeren den Vortritt zu lassen, anderen die Tür aufzuhalten und dergleichen, also insgesamt aufeinander Rücksicht zu nehmen, überhaupt andere Menschen im öffentlichen Raum wahrzunehmen und das eigene Verhalten entsprechend anzupassen.

Vor einigen Jahren sah ich bei einem Urlaub in einer türkischen Großstadt nach vielen Beinahe-Zusammenstößen schließlich das, worauf ich schon gewartet hatte: Auf einem Platz stießen zwei Männer heftig zusammen, weil keiner von seinem geraden Weg abwich. Ich überlegte damals, ob die von mir dort beobachtete Häufung solcher Situationen vielleicht etwas mit einer anderen geschichtlichen Entwicklung der Kultur des öffentlichen Raums zu tun haben könnte, der in muslimischen Ländern mit starker Geschlechtertrennung viel länger ausschließlich Männern vorbehalten war als in christlich geprägten patriarchalen Gesellschaften. Wenn Männer, Frauen und Kinder sich den öffentlichen Raum gleichberechtigt teilen müssen – so dachte ich –, ist die Entstehung einer Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme wahrscheinlich naheliegender. Ich dachte an die christliche Ritterkultur und das Ideal der Ritterlichkeit, an moralische Erzählungen, beispielsweise an Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, die wir in der Grundschule gelesen und nachgespielt hatten, wobei wir Kinder uns einig waren, wie dumm die Protagonisten dieser Geschichten waren, von denen keiner ausweichen und nachgeben wollte. Ich dachte auch an den lange selbstverständlichen Grundsatz „Frauen und Kinder zuerst (… und der Kapitän zuletzt“) bei Rettungsaktionen sowie an das „Gentleman“-Ideal. Über viele Generationen wurde eine durch solche Ideale geprägte, als europäisch geltende Kultur weitergegeben und musste bei jeder Generation immer wieder neu vermittelt und eingeübt werden. Inzwischen hat sich innerhalb von ein bis zwei Generationen bei uns mehr und mehr das Verhalten durchgesetzt, „cool“ seinen Weg fortzusetzen und auf keinen Fall auszuweichen, weil man ja schließlich kein „Opfer“ sein will. Und wenn fast niemand mehr ausweicht oder einem auch mal den Vortritt lässt, kommt man sich irgendwann dumm vor, es weiterhin zu tun. So nimmt rücksichtsloses Verhalten schnell überhand. Als ich vor einigen Jahren mit einer im Rollstuhl sitzenden Freundin in der Münchner Innenstadt unterwegs war, belehrte sie mich gleich zu Beginn, auf keinen Fall auszuweichen, sonst komme man mit dem Rolli nicht voran. Und ich war entsetzt, weil tatsächlich kaum jemand auf uns achtete oder gar Rücksicht nahm. Dieser Kulturverlust hat nichts mit äußeren Einflüssen zu tun, er ist „selbstgemacht“. Doch es besteht die Gefahr, dass für das undeutliche Gefühl, hier sei etwas Wesentliches dabei, vollends verloren zu gehen, nach äußeren Sündenböcken gesucht wird. Auf das Ideal der „Coolness“ und den Hintergrund für seine Entstehung werde ich in einem späteren Blogpost noch eingehen.

 

Auf dem oben erwähnten Fußweg am Bach entlang, der deutlich mit einem Fußgängergebotsschild gekennzeichnet ist, fahren inzwischen immer mehr Radfahrer ohne jegliches Unrechtsbewusstsein, d.h., sie fahren nicht etwa defensiv, sondern klingeln schon von weitem und erwarten, dass Fußgänger auf die Seite springen. Auch auf schmalen Wanderwegen ist das inzwischen üblich, obwohl das Radfahren dort (noch) verboten ist. Sogar auf städtischen Gehwegen fahren die inzwischen erwachsen Gewordenen ebenso rücksichtslos wie früher auf ihren Kinderrädern und erwarten ebenso wie damals, dass ihnen Platz gemacht wird. Manchmal sage ich dann: „Das ist hier kein Radweg“. Einmal bekam ich von einem ca. 40jährigen Mann die Antwort: „Halt’s Maul!“ und ein anderer aus derselben Altersgruppe, der mich und eine andere Frau beinahe umfuhr, antwortete auf unseren Protest, wir seien doch nur frustrierte alte Weiber und sollten uns nicht aufregen, es sei ja nichts passiert. Die meisten antworten allerdings freundlich: „Ja, ich weiß“, oder „Ja, ja!“ – und fahren in unverminderter Geschwindigkeit weiter. Das geschah einmal sogar an einer Engstelle, vor der ich eine ganze Weile warten musste, bis der Radfahrer sich durchgeschlängelt hatte. Auch dann fuhr er ungeniert auf dem Fußgängerweg weiter, obwohl er leicht auf die Straße hätte wechseln können.

Dass es ebenfalls ein Kulturverlust ist, der nicht nur die Sicherheit gefährdet, sondern auch das Zusammenleben erschwert, wenn Menschen sich nicht mehr an Regeln halten, fällt mir erst in letzter Zeit so richtig auf – und das nicht nur im Straßenverkehr. Es ist noch nicht so lange her, dass auch ich manche Regeln „sportlich“ übertrat und Spaß daran hatte. Und als einst Mitwirkende an der antiautoritären Bewegung gab es auch Zeiten, in denen mir sogar der Slogan „Legal, illegal, scheißegal“ Spaß machte. Erst jetzt merke ich, wie schnell manche Selbstverständlichkeiten verloren gehen, wenn Regeln nicht mehr beachtet werden, und wie anstrengend dadurch beispielsweise die Fortbewegung im öffentlichen Raum wird, vor allem für ältere Leute. So einfache Regeln, wie rechts aneinander vorbeizugehen oder dem fließenden Verkehr den Vortritt zu lassen, wenn man aus einer Einfahrt oder einem Hauseingang kommt, funktionieren plötzlich nicht mehr, was nicht nur gefährlich ist, sondern auch Aggressionen erzeugt, vor allem bei denen, die sich noch an Regeln halten und das von anderen ebenfalls erwarten.

 

Diese drei Bereiche von Kulturverlust, über die ich in nächster Zeit schreiben möchte, hängen insofern miteinander zusammen, als sie sich darauf auswirken, wie sich Menschen im öffentlichen Raum begegnen, wie sie einander wahrnehmen und einander Respekt und Wertschätzung entgegenbringen oder eben auch nicht. Wenn die Stimmung auf den Straßen und Plätzen unfreundlicher und tendenziell gewalttätiger wird, ist das etwas sehr Politisches, lange bevor es zu großen Demonstrationen oder anderen Ereignissen kommt, durch die mit Schrecken festgestellt wird, dass etwas gründlich schief gelaufen sein muss, obwohl scheinbar niemand etwas davon gemerkt hat.