Ich wohne in einem kleinen Dorf in Großstadtnähe, mit einem dörflich-konservativen Kern und vorstadtähnlichen Siedlungen drum herum. Als wir vor 15 Jahren hierherzogen, fiel mir sofort positiv auf, dass die Menschen sich noch fast alle grüßten. Inzwischen tun das nur noch die älteren Leute. Die nach uns Zugezogenen haben diese Form niederschwelliger Kontaktaufnahme nicht mehr übernommen, und den meisten in dieser Zeit großgewordenen Kindern wurde sie nicht mehr beigebracht, auch nicht von den Eltern, die nach wie vor selbst grüßen. (Damit Kinder das Grüßen lernen, müssen sie sehr oft dazu aufgefordert werden, was ziemlich mühsam ist). Während die Menschen in unserer Straße sich zu Beginn noch alle mit Namen kannten und Neuzugezogene sich den anderen vorstellten, habe ich heute mit einigen noch kein Wort gewechselt und weiß noch nicht einmal die Namen der inzwischen geborenen Kinder. Für mich ist das ein Beispiel für Kulturverlust im öffentlichen Raum, denn Grüßen und Sich-Vorstellen in der Nachbarschaft macht das Zusammenleben leichter und erfreulicher und erhöht damit das Wohlbefinden im Wohnungsumfeld. Bei meinen in den letzten Jahren dazugekommenen Nachbarn – überwiegend jungen Familien – habe ich den Eindruck, dass sie daran keinerlei Interesse haben.
Vor ein paar Tagen ging ich in meinem Dorf auf einem nicht sehr breiten Fußweg am Bach entlang zum Briefkasten. Da kamen mir drei etwa siebenjährige Kinder entgegen. Sie gingen nebeneinander und reagierten überhaupt nicht darauf, dass ich ihnen entgegenkam. Obwohl ich so weit wie möglich nach rechts auswich, prallte das Mädchen am Rand recht heftig gegen mich. Relativ freundlich belehrte ich die Kinder, sie müssten schon zur Seite gehen, wenn ihnen jemand entgegenkomme. Als sie weit genug entfernt waren, um vor eventuellen Reaktionen meinerseits sicher zu sein, drehten sich die drei nochmals um, und eines brüllte: „Geh du doch auf die Seite!“
Es geht mir hier nicht in erster Linie um die Respektlosigkeit der Kinder gegenüber einer alten Frau – obwohl das auch eine große Veränderung gegenüber der Zeit meines Aufwachsens darstellt –, sondern um den Verlust der bis vor wenigen Jahrzehnten geltenden Selbstverständlichkeit, anderen auf der Straße auszuweichen, Schwächeren den Vortritt zu lassen, anderen die Tür aufzuhalten und dergleichen, also insgesamt aufeinander Rücksicht zu nehmen, überhaupt andere Menschen im öffentlichen Raum wahrzunehmen und das eigene Verhalten entsprechend anzupassen.
Vor einigen Jahren sah ich bei einem Urlaub in einer türkischen Großstadt nach vielen Beinahe-Zusammenstößen schließlich das, worauf ich schon gewartet hatte: Auf einem Platz stießen zwei Männer heftig zusammen, weil keiner von seinem geraden Weg abwich. Ich überlegte damals, ob die von mir dort beobachtete Häufung solcher Situationen vielleicht etwas mit einer anderen geschichtlichen Entwicklung der Kultur des öffentlichen Raums zu tun haben könnte, der in muslimischen Ländern mit starker Geschlechtertrennung viel länger ausschließlich Männern vorbehalten war als in christlich geprägten patriarchalen Gesellschaften. Wenn Männer, Frauen und Kinder sich den öffentlichen Raum gleichberechtigt teilen müssen – so dachte ich –, ist die Entstehung einer Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme wahrscheinlich naheliegender. Ich dachte an die christliche Ritterkultur und das Ideal der Ritterlichkeit, an moralische Erzählungen, beispielsweise an Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel, die wir in der Grundschule gelesen und nachgespielt hatten, wobei wir Kinder uns einig waren, wie dumm die Protagonisten dieser Geschichten waren, von denen keiner ausweichen und nachgeben wollte. Ich dachte auch an den lange selbstverständlichen Grundsatz „Frauen und Kinder zuerst (… und der Kapitän zuletzt“) bei Rettungsaktionen sowie an das „Gentleman“-Ideal. Über viele Generationen wurde eine durch solche Ideale geprägte, als europäisch geltende Kultur weitergegeben und musste bei jeder Generation immer wieder neu vermittelt und eingeübt werden. Inzwischen hat sich innerhalb von ein bis zwei Generationen bei uns mehr und mehr das Verhalten durchgesetzt, „cool“ seinen Weg fortzusetzen und auf keinen Fall auszuweichen, weil man ja schließlich kein „Opfer“ sein will. Und wenn fast niemand mehr ausweicht oder einem auch mal den Vortritt lässt, kommt man sich irgendwann dumm vor, es weiterhin zu tun. So nimmt rücksichtsloses Verhalten schnell überhand. Als ich vor einigen Jahren mit einer im Rollstuhl sitzenden Freundin in der Münchner Innenstadt unterwegs war, belehrte sie mich gleich zu Beginn, auf keinen Fall auszuweichen, sonst komme man mit dem Rolli nicht voran. Und ich war entsetzt, weil tatsächlich kaum jemand auf uns achtete oder gar Rücksicht nahm. Dieser Kulturverlust hat nichts mit äußeren Einflüssen zu tun, er ist „selbstgemacht“. Doch es besteht die Gefahr, dass für das undeutliche Gefühl, hier sei etwas Wesentliches dabei, vollends verloren zu gehen, nach äußeren Sündenböcken gesucht wird. Auf das Ideal der „Coolness“ und den Hintergrund für seine Entstehung werde ich in einem späteren Blogpost noch eingehen.
Auf dem oben erwähnten Fußweg am Bach entlang, der deutlich mit einem Fußgängergebotsschild gekennzeichnet ist, fahren inzwischen immer mehr Radfahrer ohne jegliches Unrechtsbewusstsein, d.h., sie fahren nicht etwa defensiv, sondern klingeln schon von weitem und erwarten, dass Fußgänger auf die Seite springen. Auch auf schmalen Wanderwegen ist das inzwischen üblich, obwohl das Radfahren dort (noch) verboten ist. Sogar auf städtischen Gehwegen fahren die inzwischen erwachsen Gewordenen ebenso rücksichtslos wie früher auf ihren Kinderrädern und erwarten ebenso wie damals, dass ihnen Platz gemacht wird. Manchmal sage ich dann: „Das ist hier kein Radweg“. Einmal bekam ich von einem ca. 40jährigen Mann die Antwort: „Halt’s Maul!“ und ein anderer aus derselben Altersgruppe, der mich und eine andere Frau beinahe umfuhr, antwortete auf unseren Protest, wir seien doch nur frustrierte alte Weiber und sollten uns nicht aufregen, es sei ja nichts passiert. Die meisten antworten allerdings freundlich: „Ja, ich weiß“, oder „Ja, ja!“ – und fahren in unverminderter Geschwindigkeit weiter. Das geschah einmal sogar an einer Engstelle, vor der ich eine ganze Weile warten musste, bis der Radfahrer sich durchgeschlängelt hatte. Auch dann fuhr er ungeniert auf dem Fußgängerweg weiter, obwohl er leicht auf die Straße hätte wechseln können.
Dass es ebenfalls ein Kulturverlust ist, der nicht nur die Sicherheit gefährdet, sondern auch das Zusammenleben erschwert, wenn Menschen sich nicht mehr an Regeln halten, fällt mir erst in letzter Zeit so richtig auf – und das nicht nur im Straßenverkehr. Es ist noch nicht so lange her, dass auch ich manche Regeln „sportlich“ übertrat und Spaß daran hatte. Und als einst Mitwirkende an der antiautoritären Bewegung gab es auch Zeiten, in denen mir sogar der Slogan „Legal, illegal, scheißegal“ Spaß machte. Erst jetzt merke ich, wie schnell manche Selbstverständlichkeiten verloren gehen, wenn Regeln nicht mehr beachtet werden, und wie anstrengend dadurch beispielsweise die Fortbewegung im öffentlichen Raum wird, vor allem für ältere Leute. So einfache Regeln, wie rechts aneinander vorbeizugehen oder dem fließenden Verkehr den Vortritt zu lassen, wenn man aus einer Einfahrt oder einem Hauseingang kommt, funktionieren plötzlich nicht mehr, was nicht nur gefährlich ist, sondern auch Aggressionen erzeugt, vor allem bei denen, die sich noch an Regeln halten und das von anderen ebenfalls erwarten.
Diese drei Bereiche von Kulturverlust, über die ich in nächster Zeit schreiben möchte, hängen insofern miteinander zusammen, als sie sich darauf auswirken, wie sich Menschen im öffentlichen Raum begegnen, wie sie einander wahrnehmen und einander Respekt und Wertschätzung entgegenbringen oder eben auch nicht. Wenn die Stimmung auf den Straßen und Plätzen unfreundlicher und tendenziell gewalttätiger wird, ist das etwas sehr Politisches, lange bevor es zu großen Demonstrationen oder anderen Ereignissen kommt, durch die mit Schrecken festgestellt wird, dass etwas gründlich schief gelaufen sein muss, obwohl scheinbar niemand etwas davon gemerkt hat.
Hier in Heidelberg hat die Polizei vor einigen Wochen eine Aktion wegen dieser rücksichtslosen Radfahrer gemacht. Es fahren ja viele völlig selbstverständlich gegen die Richtung.
An einer grossen Brücke bei uns wurden die auffälligen Radfahrer angehalten und sie mussten entweder ihr Fahrrad abschliessen und den Schlüssel der Polizei geben oder aber die Polizeibeamten liessen den Fahrradfahrern die Luft aus dem Reifen.
Wo kommt denn dieses verantwortungslose Fahren der Fahrradfahrer her? Seit ein paar Jahren ist das „Mode“ und ich verstehe das nicht. Denn es ist wirklich gefährlich. Das scheint denen nicht in den Sinn zu kommen.
Ach ja, jetzt weiss ich es wieder. Es war – von den Regeln mal abgesehen – eine Aktion gegen Eile und Hetze. Weil die Leute es dauernd so eilig haben, verletzen sie die Regeln.
Da die Diskussion über diesen Text hauptsächlich auf Facebook stattfand, fasse ich die interessantesten Gedanken daraus hier kurz zusammen:
Einer wandte sich gegen meine Aussage, die Stimmung im öffentlichen Raum werde durch die Aspekte von Kulturverlust, über die ich hier schreibe – Grüßen, Rücksichtnahme, Sich-an-Regeln-Halten – tendenziell gewalttätiger. Er meinte, wenn früher Kinder beispielsweise nicht ausgewichen seien, seien sie verdroschen worden, doch das habe man nicht unter „Gewalt“ verbucht, sondern „Erziehung“ genannt. In meinem Umfeld war das nicht so. Natürlich wurden Kinder geprügelt, wenn sie nicht „spurten“, aber in der Öffentlichkeit habe ich diese Art von „Erziehung“ eher selten erlebt.
Ein zweites Thema war mein Bezug auf die (verloren gegangene) Regel, bei Unglücksfällen „Schwächere“, also Frauen und Kinder zuerst zu retten. Beim Untergang der Titanic hat man sich wohl noch – oder vielleicht auch nur einmalig – daran gehalten, und 74% der Frauen, aber nur 20% der Männer haben überlebt. Bei allen späteren Schiffsunglücken überlebten deutlich mehr Männer als Frauen, wie ja auch bei anderen Katastrophen. Eine meinte, dies zeige doch, dass es eine Kultur des „Die Schwächeren zuerst …“ brauche, damit diese überhaupt eine Chance hätten. Andererseits sei an dieser ganzen Ritterlichkeit problematisch, dass Frauen als schwach und beschützenswert konstruiert würden, was dann wieder als Argument verwendet werde, um ihre Freiheit einzuschränken. Eine andere meinte, dies sei also unterm Strich eine Kultur, die Schwächere konstruiere, dann deren Rettung propagiere, sich dann nicht an diesen Grundsatz halte, aber das eine erfolgreiche Beispiel entgegen aller Realität als Beweis durchkaue.
Mehrere störte der Begriff „Kulturverlust“. Darauf werde ich in einem zusätzlichen Blogpost eingehen.