Vor einigen Jahren hing ein riesiges Plakat am Freiburger Theater, mit dem für eine Veranstaltungsserie geworben wurde: „Gibt es eine Alternative zum Kapitalismus?“ Als ich es las, dachte ich spontan: „Ja klar, die Welt der Gabe zum Beispiel!“ Denn ich hatte gerade entdeckt, dass die Gabe nach einer ganz anderen Logik funktioniert als der Tausch von Waren und Dienstleistungen. Doch sofort kamen mir Zweifel und ich merkte, dass die Frage am Theater falsch gestellt war. Sobald ich nämlich aus dem Gabegeschehen oder aus etwas anderem, beispielsweise der Subsistenzwirtschaft, eine Alternative zum Kapitalismus machen möchte, bekommt diese Charakterzüge, die mir nicht wünschenswert erscheinen, schon in der Vorstellung verbinde ich damit etwas Unfreies und Dogmatisches. Was ich über reine bzw. überwiegende Gabegesellschaften gelesen habe, in denen die Pflicht zum Geben und der gesellschaftliche Druck, ihr nachzukommen, eine große Rolle spielen, finde ich als Gesellschaftsmodell nicht erstrebenswert, dafür ist mir die Freiheit beim Schenken zu wichtig. Und die habe ich nur, wenn es auch den Tausch gibt. Doch vom Tausch zur kapitalistischen Gewinnmaximierung um jeden Preis ist der Weg nun mal nicht weit, oder?
Alternativen sind einander ausschließende Gegensätze. Wenn wir in Alternativen denken, werden wir zum einen dem Leben nicht gerecht, in dem es keine reinen Alternativen gibt, sondern eher ein „Sowohl – als auch“ oder ein „Mehr-das-eine-als-das-andere“, zum anderen binden wir uns im Gegensatzdenken an das, zu dem wir eine Alternative suchen, wodurch neue, ganz andere Ideen keine Chance haben. Und da wir ständig mit dem beschäftigt sind, gegen das wir uns abgrenzen und wozu wir einen Gegensatz bilden wollen, tauchen merkwürdigerweise schließlich auch in unserer „Alternative“ Dinge auf, die wir mit ihr bekämpfen wollten. Ich wollte beispielsweise eine ganz andere Lehrerin sein als mein Vater, der sehr streng war und vor dem wir alle Angst hatten. So wurde ich eine Lehrerin, vor der niemand Angst haben musste, und ich war sehr stolz darauf, wenn Eltern mir bestätigten, dass ihre Kinder im Gegensatz zu früher nun ohne Angst in die Schule gingen. Da ich aber so sehr an mein alternatives Verhaltensmodell gebunden war, um jeden Preis anders sein zu müssen als mein Vater, hatte ich keinen Raum und keine Freiheit für neue Ideen und Lernerfahrungen. So gelang es mir nicht sehr gut, mich einer Klasse gegenüber durchzusetzen. Nun hatte ich Angst vor der Schule. Und weil ich mich so überfordert fühlte, geschah es schon bald, dass ich mich in der Klasse brüllen hörte wie einst meinen Vater, worüber ich natürlich sehr erschrak.
Ich denke, dass mit dem Sozialismus etwas Ähnliches passiert ist. In dem Maße, wie er sich als Alternative zum Kapitalismus, als alles Bürgerliche und Kapitalistische ausschließenden Gegensatz dazu verstand, überlebten immer weniger Ideen aus der ursprünglichen Vielfalt sozialistischen und sozialdemokratischen Denkens und den Erfahrungen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Wie sehr sich sozialistische Gesellschaftssysteme schließlich im Wettbewerb der Systeme hinsichtlich Menschenverachtung, Ausbeutung und Unterdrückung der kapitalistischen „Alternative“ annäherten, ist ja ausreichend dokumentiert, gerade habe ich beispielsweise in Swetlana Alexijewitschs Buch Secondhandzeit darüber gelesen.
Doch immer wieder ist zu hören, dass es nach dem Untergang des Sozialismus keine Alternative mehr zum Kapitalismus gebe, weshalb er sich jetzt in seiner ganzen Raubtierhaftigkeit und Bösartigkeit zeigen und sich immer weiter ausbreiten könne. Und dass er aus diesem Grund auch niemals mehr untergehen könne.
In einem Text der Diotima-Philosophin Diana Sartori, den ich für die Onlinezeitschrift beziehungsweise-weiterdenken zusammengefasst habe, fand ich einen Vorschlag, der uns zu der Erkenntnis verhelfen könnte, dass der Kapitalismus in Wirklichkeit nicht so allumfassend ist, wie er dargestellt wird und wie wir ihn oft erleben. Sie schreibt, er fülle in Wirklichkeit nicht den ganzen Raum aus, auch wenn er ein unaufhörlicher Prozess von Ausbeutung und Privatisierung sei, in dem er das, was sich noch außerhalb seines Zugriffs befinde, weiter zu kolonisieren versuche, um auch daraus Gewinn zu ziehen. Doch parasitär kann nur etwas leben, wenn es darunter oder daneben noch etwas anderes gibt, das ausgesaugt werden kann. Feministische Studien, die Ökonomie radikal neu denken, kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass Kapitalismus nur eine partielle und sekundäre Dimension der Wirtschaft sei. In ihren Büchern The End of Capitalism (as wie knew it) und A Postcapitalist Politics von J.K. Gibson-Graham schlagen die Autorinnen eine Praxis vor, um die anderen Dimensionen der Wirtschaft wahrnehmen und stärken zu können. Wir sollen uns die Frage stellen: „Wie viele Dinge meines Lebens werden wirklich vom Kapitalismus geordnet und geregelt? Und welche Teile sind es dagegen nicht und sind es auch nie gewesen?“
Als ich das ausprobierte, wurde mir schnell klar, dass es nicht darum gehen konnte, Bereiche zu finden, die unabhängig von kapitalistischer Wirtschaft sind. Wenn ich kein Auto habe und mit dem Fahrrad fahre, ist ja mein Rad trotzdem etwas, das unter kapitalistischen Bedingungen hergestellt wurde. Wenn ich meine Kleidung auf dem Flohmarkt kaufe, heißt das ja nicht, dass sie nicht auch einmal unter brutal ausbeuterischen Bedingungen in Bangladesch genäht worden ist. Und wenn ich unbezahlt Texte veröffentliche, die mir wichtig sind, brauche ich ja trotzdem einen Computer und Geld für meinen Lebensunterhalt. Aber wenn ich einen Lieblingspullover zum fünften Mal stopfe, auch wenn sich das überhaupt nicht „rechnet“, oder wenn ich eine Zucchinipflanze in meinem Garten monatelang aufpäppele, um dann vielleicht ein paar Früchte zu ernten, während Zucchini gerade im Supermarkt fast nichts kosten, wenn mir Qualität in allem mehr bedeutet als Quantität, wenn mir meine Beziehungen wichtiger sind als mein Profit, dann bewege ich mich in einer anderen Logik, die nicht vom Kapitalismus geordnet und geregelt wird.
Mit meiner Suche stehe ich erst am Anfang. Ich wünsche mir, dass sich andere auch auf die Suche nach dem machen, was außer dem Kapitalismus noch in unserem Wirtschaftsleben vorhanden und wirksam ist – und hier in den Kommentaren etwas über ihre Erfahrungen schreiben.
Danke für diesen Text!
Man kann die Dinge, die vom Kapitalismus geregelt werden und die nicht, halt auch nicht sauber voneinander trennen, es gibt aber bei fast allem, was ich tue, selbst wenn im Rahmen des Kapitalismus, auch Aspekte, die außerhalb sind. Zum Beispiel wenn ich im Erwerbsarbeitskontext auf gute Beziehungen achte oder versuche, darauf hinzuwirken (zum Beispiel, wenn ich mir Regeln oder eher Praktiken für von mir geleitete Sitzungen überlege), dann spielt dabei sowohl mit, dass ich die Sitzung effektiv gestalten will und dass ich mich als „wertvolle“ Mitarbeiterin bewähren will, aber es spielt eben auch mit, dass ich Freude an der Arbeit haben will (einfach nur so) und auch will, dass meine Mitarbeiter_innen und Kolleg_innen zufrieden sind, und auch da ist wieder ein Teil davon, dass sie dann „besser“ arbeiten, aber ein anderer Teil ist auch, dass ich es einfach gut und richtig finde. Es ist wie bei vielen anderen Phänomenen auch, dass die Trennung eher „im Prinzip“ klar ist, in der Realität aber beides immer vermischt vorkommt. Und, genau wie du schreibst, ist es möglich, das „Nicht-Kapitalistische“ trotzdem bewusst zu stärken, und zwar aus sich heraus, nicht um eine Alternative zum Kapitalismus zu schaffen.
Interessanter Gedanke, dass letztlich bei Kapitalistischem und dem „Anderen“, für das es noch kein Wort gibt, genauso wie bei Macht und Politik, Gabe und Tausch, Bedürfnis und Begehren usw. nur gedanklich eine klare Trennung möglich ist. Dass diese aber hilft, den Part im Zusammenleben zu stärken, von dem wir uns das wünschen.
Und weil es sich nicht klar trennen lässt, ist es auch nicht verwunderlich, dass beim Versuch, eine Alternative zu schaffen, immer auch etwas von dem, gegen das man sich ursprünglich abgegrenzt hat, wieder auftaucht. Und weil das dann möglichst lange geleugnet wird, oft auch noch in besonders schlimmer Form.
Tatsächlich laufen die meisten Dinge in unserer Gesellschaft nicht „kapitalistisch“, na ja, zumindest nicht über Geld und Bezahlung. Das weiss auch das Bundeamt für Statistik. Das Verhältnis für alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten, die bezahlt werden und nicht bezahlt werden ist ein Drittel zu zwei Drittel. Hab hier mal drüber geschrieben: http://keimform.de/2010/produktive-schweine-und-unproduktive-kinder/
Ja, und auch nicht alles, was bezahlt wird, ist deshalb etwas Kapitalistisches, auch wenn es natürlich schon aufgrund des Tauschmittels Geld nicht unabhängig vom Kapitalismus ist.
Meine Drehleier und E-Gitarre/Akk.-Gitarre sind meistens ein Leitfaden und Innerer Faden für Neues und Alternatives Tun und Lassen.Damit finde ich auch wieder neuen Mut,den Alltag zu bestehen und zu verstehen, was die veränderte Welt uns sagen will.Vielfach hat man/frau schon erste Schritte dazu unternommen und sieht im Nachhinein erste Resultate.
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Hat dies auf Plattform libertärer Opportunisten rebloggt.
In einem Vortrag aus dem Jahre 1987 resümierte Paul Watzlawick, dass Systeme die „das Gute“ umsetzen wollen, dies früher oder später auch mit Waffengewalt durchsetzen werden, wenn ihr System nämlich in Gefahr ist.
Hinter jedem System steckte vielleicht einst ein Urheber, der tatsächlich „gutes“ im Sinn hatte, aber entweder will es der Lauf der Dinge, höhere Gewalt oder individueller Egoismus, dass diese Systeme aus dem Ruder laufen, was aber im Grunde nebensächlich ist.
Die eigentliche Gefahr steckt im Wertesystem; zum Einen die Wertung, zum Anderen im System, oder in der Systemsuche. Solange wir Dinge als gut oder schlecht betrachten, wird es Kriege geben und ein System zu erfinden, welches allen Menschen gerecht wird ist schlicht und ergreifend unmöglich.
Prekär wird die Situation, wenn wir noch versuchen ein System zu perfektionieren, und die bunte Gesellschaft soll dieses adaptieren, oder zumindest akzeptieren, bestenfalls respektieren.
Wenn es ein System gibt, welches vielen gefällt, grenzen wir all jene aus, deren Struktur nicht angepasst werden kann. Das gibt früher oder später Zoff. Losgelöst von allen anderen Faktoren.
Das Denken in Kategorien ist womöglich völlig ungeeignet um eine friedliche, humane, lebens- und liebenswerte Welt zu gestalten. Muss auch nicht sein. Wozu irgendetwas gestalten, denn unser Planet ist bereits friedlich, human, lebens- und liebenswert, solange nicht größenwahnsinnige Menschen auf die Idee kommen, sie zu systematisieren.
Für mich gibt es nur ein Vorbild und zwar die Natur. Sie lehrt mich alles (bis auf Rechtschreibung). Die Natur ist das perfekte Chaos. In unserem Sprachgebrauch hat sich die Anarchie als Stellvertreterin für diese systemlose Struktur etabliert. Aber die Anarchie ist leider in Verruf gekommen, weil der Ausdruck von Vielen missbraucht wurde.
Vielleicht sollten wir uns hüten die Idealvorstellungen, die wir haben, in ein (vielversprechendes) System zu kleiden. Ich finde, den Artikel sehr gelungen, da er etwas sehr wichtiges zum Ausdruck bringt: jeder von uns kann sein eigenes System leben, sofern wir die Rahmenbedingungen – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – vorfinden.
Wenn wir ständig nach irgendetwas schielen, was „Anti“ ist, muss zwangsläufig der gleiche Schmarrn entstehen, nur in anderer Verpackung.
Danke für den guten Artikel.
Danke an Antje, für den Hinweis.
*http://www.youtube.com/watch?v=M7aMmiMrYmU (Sehr sehenswert)
Wer denn hier schon die Wahl hat, etwas nicht nach rein kapitalistischen Maßgaben zu entscheiden verfügt ja anscheinend über Handlungspielräume welche in diesem System eben längst nicht allen offen stehen. Wer sich also nicht zum Großteil in Abhängigkeit zum Kapital wähnt, tut das aus einem ganz bestimmten Grund nicht. Denn ist genügend Geld und Gut vorhanden, kann sich eins sehr bequem zumindest ein kleines Stück weit von kapitalistischer Logik als Entscheidungsgrundlage „freikaufen“ – aber natürlich nicht vom Kapitalismus selbst. Dem grundsätzlichen Problem welches aus Privateigentum an Produktionsmitteln entsteht lässt sich weder davonlaufen noch durch privilegierte Versteckspiele entgehen, wenn es um ernstgemeinte Vorstellungen darüber gehen soll, wie eine Freiheit in selbstgestalteter Bezogenheit für alle aussehen kann.
Du glaubst also, dass der Kapitalismus den ganzen Raum ausfüllt und dass es dumme Einbildung ist, wenn Menschen meinen, es gebe auch noch Nicht-Kapitalistisches, nämlich das, wovon der Kapitalismus sich ernährt. Und Privateigentum an Produktionsmitteln führe grundsätzlich und immer zu Gewinnmaximierung um jeden Preis und damit zu Ausbeutung und Unterdrückung. Ich glaube das nicht und finde, es gibt durchaus Gegenbeispiele. z.B. dieses: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/richard-henkel-gmbh-verzichtet-auf-kunden-und-umsatz-a-937569.html
Ich versuche mal zu präzisieren: Ich glaube, dass es keine Möglichkeit gibt, sich den grundsätzlichen Regeln des Kapitalismus in irgendeiner Weise zu entziehen. Wir leben im Kapitalismus, und Kapitalismus hat bestimmten Einfluss in alle Lebensbereiche. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass alles Denken und Handeln zu 100% aus Kapitalismus besteht oder nur daraus erklärbar wäre, gegen derartige Ansätze wehre ich mich auch entschieden.
Wer mehr Spielräume als andere hat, ist auch nicht automatisch zu 100% NutznießerIn. Sie sind ja dadurch, dass sie innerhalb dieser Regeln besser aufgestellt sind nicht weniger abhängig von genau diesen Regeln, sondern genau diese Regeln ermöglichen das eigene Bessergestelltsein bzw. das Schlechtergestelltsein der anderen. Will sagen: *Dass* eins mehr Freiräume hat ist ja genau Folge dieser Wirkweise von Geld: Wer mehr Geld hat, ist dadurch nicht „unabhängiger“ von Geld!
(Einschub: Salopp ausgedrückt ist Kapitalismus ein kollektiver Beschiss, und auf ‚spiritueller‘ Ebene ließe sich sicher auch formulieren, dass die größten ‚Nutznießer‘ dabei in gewisser Weise verlieren – nur materialistisch betrachtet tun sie das eben ganz bestimmt nicht. Die haben eben die bessere Gesundheitsversorgung, die besseren Anwälte, das gesündere Essen, die besseren Voraussetzungen in jeder Hinsicht für ein genüsslicheres Leben.)
Ich finde es allerdings ein wenig absurd zu sagen, dass jemand, der auf diese (tatsächlich und täglich für zig Menschen auf diesem Planeten erfahrbaren) Schädigungen der Marktwirtschaft hinweist und , diese dadurch erst hervorbringt oder verfestigt.
Was das Beispiel Henkel angeht, da sehe ich keinen Widerspruch: Ja, wer genügend Profit macht (der wichtigste Satz dort heißt doch: „Die Rendite stimmt trotzdem“, und das ist Voraussetzung für alles weitere!), um sich über Wasser zu halten *kann* sich solches Verhalten eben erlauben. Das ist doch kein Widerspruch zur kapitalistischen Logik, sondern bestätigt diese: Du bist so frei wie du dir es dir leisten kannst. Das schließt sämtliche ’noblen Gesten‘ mit ein.
Es liegt mir also fern zu behaupten, Kapitalismus mache uns alle zwangsläufig zu Profitgeiern – dann würde sich jedes Bemühen dagegen doch sowieso erledigen, wenn das System all unser Denken tatsächlich so beherrschte.
Was sich aber eben nicht wegphilosophieren lässt sind eben die knallhart vorliegenden materiellen Bedingungen unter denen wir hier und heute mehr oder weniger ‚frei‘ unsere Bezüge wählen können, je nach dem wie wir in diesem System eben positioniert sind. Und die Kritik geht eben allzuhäufig nur in die Richtung, ‚Startbedingungen‘ zu verbessern und ‚Chancengleichheit‘ herzustellen. Dass es in dieser Art Spiel materiell betrachtet aber immer manchen schlechter gehen muss damit es anderen besser geht, lässt sich mit einer kleinen Abänderung der Spielregeln eben nicht aus der Welt schaffen.
Größtenteils stimme ich dir zu. Mein Anliegen mit meinem Artikel war aber, die Räume, Bereiche und Möglichkeiten herauszuarbeiten, die weniger vom Kapitalismus kontaminiert sind und sie dadurch hervorzuheben und zu stärken. Ich bin nicht der Meinung, dass nur Profiteure des kapitalistischen Systems, also Reiche, solche Möglichkeiten haben, auch Menschen mit wenig Geld lieben und versorgen ihre Kinder, versorgen Kranke und Alte, schmücken sich und ihre Umgebung, reparieren Dinge, anstatt sie wegzuwerfen, bauen eigenes Gemüse an usw.
Ich habe auch nicht geschrieben, durch das Benennen der vom Kapitalismus hervorgebrachten Missstände würden diese verfestigt. Wobei ich aber der Meinung bin, dass es nicht hilfreich ist, wieder und wieder über sie zu sprechen und zu schreiben, vor allem dann nicht, wenn nicht konkrete Situationen beschrieben werden, sondern aus der Theorie abgeleitete Behauptungen wiederholt werden. Verfestigt wird er jedoch durch die Behauptung, er fülle den ganzen Lebensraum aus und es gebe keine Möglichkeiten, sich ihm zu entziehen (wenn auch nie vollständig, da hast du natürlich Recht).
Ich kann durchaus nachvollziehen, was du sagen möchtest, und worum es dir mit dem ‚Stärken dieser Bereiche‘ geht (*s.u.). Ich habe ja auch rein nix gegen die schiere Existenz dieser Räume einzuwenden, in ihnen kann ja z.B. durch die ‚alternative Praxis‘ sehr gut erkannt werden, dass die Regeln des Kapitalismus menschengemacht sind, und was sich alles anders machen lässt, das kann sehr inspirierend sein, ja.
Ich begreife sie aber eben auf der gesamthaften Ebene als Teil des Kapitalismus, nicht als seine gleich ausformulierte Gegenposition oder „Orte des Widerstands“ bzw. gar von ihm ‚unberührte‘ Lebensbereiche. Das mag sich anhören wie Begriffsklauberei, hat für mich aber dann eben doch deutliche Auswirkungen:
Ich kann nämlich, wenn diese als Freiräume erkannten Bereiche als solche gefeiert werden, für mich eben nicht ausklammern, dass Menschen mit sehr wenig Geld (wie wenig genau „wenig“ ist, ist auch immer relativ, klar) ihre Kinder, Alten und Kranken eben nicht so gut versorgen können, weniger oder gar nichts zum Schmücken haben, Dinge immer wieder reparieren müssen die längst ersetzt gehören und eigenes Gemüse vor allem anbauen können weil ihnen zumindest Erde und Boden dafür zur Verfügung steht, was wiederum längst nicht alle von sich sagen können. Das sind alles konkrete Situationen, nicht nur Theorien, und ein zu einseitiges Fokussieren auf die geistigen und privaten Freiheiten die den materiell mehr oder weniger begünstigten jeweils so bleiben (oder nicht) führt in meiner Befürchtung dazu, dass sich da die eigene Situation auf eine Weise romantisiert und schön geredet wird, welche dieses grundlegende Problem ausblendet. Da feiert sich eins als ‚unabhängig‘ und ist es aber eben doch nicht.
Sicher, wenn ich ständig und in jeder Situation nur im Kopf hätte wie schlimm der Kapitalismus ist, würde ich mit Sicherheit bald wahnsinnig, und keine Frage, ich bin über jeden der von dir beschriebenen ‚Freiräume‘ froh, bei mir und bei anderen. Aber ich gestalte daraus eben lieber keine Perspektive die mir erlaubt zu sagen, dass es Bereiche gäbe, „die der Kapitalismus nicht regelt“, denn das tut er in meinen Augen auf ganz grundsätzliche Weise eben immer, auch wenn es nicht immer alle gleich deutlich spüren mögen (eine klare Unterscheidung zwischen Profiteuren und Ausgebeuteten halte ich übrigens in den seltensten Fällen für möglich oder überhaupt hilfreich).
Andernfalls befürchte ich im schlimmsten Fall so eine sich immer enger drehende Spirale der alternativen Selbstgenügsamkeit: „Ach, wir haben Nudeln und Kerzen, das kann uns der Kapitalismus nicht nehmen“, später dann „Nudeln werden knapp, aber Kerzen kann uns der Kapitalismus nicht nehmen“, und dann „Kerzen sind aus, naja, wir haben noch unseren Glauben“ und zum Schluss bleibt nichts als die gefühlte moralische Reinheit. Das ist jetzt bewusst etwas überspitzt formuliert, aber da sehe ich eben ein wenig Bedenken angebracht.
(*z.B. Antje spricht ja gern davon, dass mehrere Wirtschaftssysteme nebeneinander existieren können, wie sich eben auch Politik machen lässt ohne das patriarchalparlamentarische Spiel mitzuspielen und, wer weiß, dieses auf Dauer sogar bedeutungslos zu machen. Zweiteres halte ich durchaus für möglich und, nur bei ersterem tue ich mich eben so schwer.)
Ich möchte in jedem Fall gerne danken für den kleinen Dialog und deine Geduld. 🙂 Mir ist bewusst, dass ich hier teilweise recht ‚hart‘ formuliert habe, ist sonst nicht meine Art, aber der Gegenstand bzw. wie ich ihn warnehme, lässt mir da kaum eine andere Wahl.
O.k., lassen wir’s so stehen. Aber vielleicht solltest du einfach meinen Text nochmals lesen, dann würdest du sehen, dass ich nicht behauptet habe, es gebe vom Kapitalismus unberührte Bereiche, und dass ich weder von Widerstand noch von einer Gegenposition gesprochen habe. Und wo du die Gefahr siehst, dass ich meine eigene Situation romantisiere und schönrede, weiß ich auch nicht. Übrigens würde ich auch den Begriff „Freiräume“ nicht verwenden für das, wonach ich da auf der Suche bin und wozu ich mir von den LeserInnen viele Beispiele erhofft hatte. Vielleicht kommen ja noch ein paar.
Trotzdem danke für deine Kommentare!
Für mich ist die Freiheit zu haben etwas zu tun oder zu lassen – immer innerhalb Legalen- etwas nicht Kapitalistisches und sehr Wichtiges.