Weitermachen, mit Kainsmal

Letztes Wochenende war ich beim Treffen unserer Gruppe  „Kultur schaffen“. Einmal im Jahr denken wir ein ganzes Wochenende lang gemeinsam über Themen nach, die eine oder mehrere von uns gerade umtreiben.

Aus unserem Gespräch über Fukushima und die Folgen ergab sich die Frage, warum es in unserer Kultur so schwer ist, Fehler einzugestehen. Denn von denen, die bisher die Atomlobby unterstützt haben und jetzt plötzlich für den Ausstieg sind, hätten wir erwartet, dass sie zuerst einmal eingestehen, dass ihre vorherige Politik falsch war und Schaden angerichtet hat. Dass sie das nicht tun, führt dazu, dass wir ihnen nicht wirklich glauben können und daher wenig Hoffnung haben, dass die Katastrophe in Japan wenigstens bei uns zu einem nachhaltigen Umdenken führt.

Eine Mitdenkerin, die als Theologieprofessorin arbeitet, erklärte anhand der biblischen Geschichte von Kain und Abel, wie ein Umgang mit Schuld sein könnte, der weder das Geschehene verharmlost oder so tut, als könne man es durch eine Strafe ungeschehen machen, noch den oder die schuldig Gewordene in ihrer Existenz vernichtet. Nachdem Kain seinen Bruder erschlagen hat und nicht weiß, wie er weiterleben soll mit der allgegenwärtigen Angst vor Rache, macht Gott deutlich, dass Kain unter seinem Schutz steht, dass er nicht erlauben wird, dass Kain durch Rache vernichtet wird. Doch er zeichnet ihm ein Mal auf die Stirn, denn er bleibt von der nicht wiedergutzumachenden Schuld sein Leben lang gezeichnet.

Unsere politische Kultur ist so, dass Fehler so lange wie möglich vertuscht oder heruntergespielt werden. Wenn sie für alle offensichtlich sind oder schließlich freiwillig eingestanden werden, bedeutet das Rücktritt, Verzicht auf Machtpositionen und Ämter. Da die „Vernichtung“ bzw. die freiwillige Selbstdemontage so total ist, sobald der Fehler eingestanden wurde, finden es viele Leute verständlich, dass versucht wird, ein solches Ende zu vermeiden. Wie ungewöhnlich es ist, dass nach einem Fehler eine hohe Position sofort aufgegeben wird, auch wenn das niemand verlangt, zeigt die Reaktion auf den Rücktritt von Margot Käßmann als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, nachdem sie nach Alkoholgenuss Auto gefahren war und dabei erwischt wurde. Mit ihrem sofortigen Rücktritt setzte sie Maßstäbe: Nach ihr trat gleich noch eine Bischöfin zurück wegen eines Vorwurfs, der noch nicht einmal belegt war. Gerade ist der Dompfarrer und Dekan in Freiburg zurückgetreten, weil er unter Alkohol einen Unfall verursacht hat, bei dem zum Glück niemand verletzt und kein anderer geschädigt wurde. (Allerdings war es schon die dritte Verfehlung in dieser Richtung). Auch wenn viele Menschen solche Rücktritte bedauern, finden sie sie doch irgendwie richtig. Und so ging es mir bisher auch.

Nachdem ich auf den Sinn des Kainsmals hingewiesen wurde, sehe ich das jetzt anders. In einer Kultur, die die Menschen, die diese Geschichte aufgeschrieben haben, sich als gottgewollt, als gut für das Zusammenleben aller, vorgestellt haben, bedeuten sogar solche Taten, die nicht wieder gutzumachen sind, nicht völlige Vernichtung, nicht Verschwinden von der Bildfläche, nicht das Aufgeben von allem, was einem im bisherigen Leben wichtig war. Zur eigenen Schuld stehen heißt nicht, sich klein machen und in ein Mauseloch verkriechen. Es heißt aufrecht durchs Leben gehen mit dem Kainsmal auf der Stirn, d.h. im Bewusstsein, dass man einen Fehler gemacht oder Schuld auf sich geladen hat und dass das für die anderen Menschen sichtbar ist und bleibt. Nicht der Rücktritt, sondern das Weiterarbeiten mit dieser „Beschädigung“ würde meiner Meinung nach wirkliche Größe bedeuten. Dass ein Rücktritt leichter ist, als mit dem Kainsmal im Amt zu bleiben, hat Margot Käßmann sicher gewusst. Immerhin hatte sie die Wahl, im Gegensatz zu denen, die nicht freiwillig zurücktreten. Doch beides, der hochgelobte sofortige freiwillige Rücktritt und das verachtete Vertuschen, Herunterspielen und „am Amt Kleben“ sind Teil einer Kultur, die es erschwert, Fehler einzugestehen.

Eine Kultur, in der es möglich wäre, mit Kainsmal in einem Amt zu bleiben, setzt allerdings auch voraus, dass es eine Bereitschaft zum Verzeihen und die Ächtung eines Verhaltens gibt, das Fehler von politischen Gegnern für die eigenen Zwecke instrumentalisiert. Ich stelle es mir jedenfalls schön vor, in einer Kultur zu leben, in der wir alle vor Augen haben, dass es zum Menschsein gehört, Fehler zu machen.

10 Kommentare zu “Weitermachen, mit Kainsmal

  1. Hallo Dorothee, danke für diese Gedanken, ich finde diese Sichtweise auch sehr spannend und kann ihr in einigen Fällen, wie etwa den genannten, auch gut zustimmen.

    Man könnte das aber vielleicht ncoh ein wenig abgrenzen von den Fehlern, die bewußt gemacht wurden, wie zum Beispiel 70% einer Dissertation zu plagiieren, oder im Hinterzimmer Gesetze mit einer zahlungskräftigen Lobby gemauschelt zu haben.

    Es sei denn natürlich, daß Du das bereits durch Deine Definition von „Fehler“ abgrenzt, wenn Du sagen solltest „Fehler sind die falschen Handlungen, die unabsichtlich, aus menschlicher Schwäche heraus, getan wurden“.

    Dann kommt man zum Punkt, wie man menschliche Schwäche definiert. Wer gierig oder machtbesessen ist, leidet vielleicht auch nur an einer menschlichen Schwäche. Da kommt man schnell vom hundertsten ins tausendste, aber ich denke es ist schon deutlich, was ich meine, ne? 😉

    grüße,
    Sleeksorrow

    • Hallo @Sleeksorrow, danke für den Kommentar. Nein, ich würde mir im Hinblick auf eine neue Kultur, in der es leichter ist als jetzt, Fehler und begangenes Unrecht einzugestehen, nicht anmaßen, unabsichtliche Fehler aus menschlicher Schwäche von bewusst und vielleicht aus Geld- oder Machtgier begangenem Unrecht unterscheiden zu wollen. Du siehst ja auch, dass das Letztere ebenso unter menschlicher Schwäche verbucht werden könnte. In der Kainsgeschichte geht es um Mord, das schlimmste der Verbrechen, die nicht wieder gutzumachen sind. Kain wird von Gott noch gewarnt, dass das Böse dabei ist, von ihm Besitz zu ergreifen, Kain lässt dies aber zu und entscheidet sich, seinen Bruder zu töten, aus „niedrigen Beweggründen“, nämlich aus Neid und Eifersucht. Wer einmal öffentlich dazu gestanden hat, dass ein Handeln falsch war, kann mit einem solchen Handeln nicht weitermachen, ohne alle Glaubwürdigkeit zu verlieren. Und wer einen eigenen Fehler wirklich anerkennt, wird doch selbstverständlich versuchen, aus dem Fehler zu lernen. Meine ich zumindest.

  2. Dein letzter Satz, Dorothee, ist in Vergangenheit und Gegenwart verwurzelt:
    „Ich lebe in einer Kultur, in der alle aus eigener Erfahrung wissen (können), dass es zum Menschsein gehört, schon Fehler gemacht zu haben…“

  3. Liebe Dorothee,
    ich fand den Rücktritt von Frau Käsmann gut als Zeichen, nicht an der Macht zu kleben und Verantwortung zu übernehmen – denn gerade das ist ja überhaupt nicht selbstverständlich in unserer politischen Kultur. Ich finde auch gar nicht, dass ein Rücktritt von einem politischen Amt gleich auf Vernichtung rausläuft. Schlecht ist nur, wenn ein jemand zurücktritt, um sich eben nicht dem Fehler zu stellen. Also kommt es auf die Situation an, auf das Motiv.

  4. Liebe Dorothee,

    ich war bei der Diskussion, bei der wir von dem Kainsmal erfuhren dabei. Das Thema hat mich, ebenso wie Dich, weiterbeschäftigt. Viele Gedanken zu einer Thema Diskussion entwickeln sich erst, wenn Raum ist, das Gespräch nachwirken zu lassen. Deshalb habe ich mich gefreut, dass Du das Thema in Deinem Blog aufgegriffen hast.
    Ich bin allerdings der Meinung, dass eine Ausdifferenzierung sehr wichtig ist, wenn wir in einer Kultur leben möchten, in der durch das „Kainsmal“ die Möglichkeit geschaffen wird, trotz eines Fehlverhaltens im Amt zu bleiben.
    Die allerwichtigste Voraussetzung dafür ist aufrichtige und glaubhafte Reue, die auch nach außen vermittelt und nicht nur inszeniert wird. Hierfür lassen sich wahrscheinlich gar keine Standards finden, sondern es hängt von der jeweiligen Tat und auch den Betroffenen ab.
    Ich finde es ganz wichtig, dass jeder Mensch nach einem Fehlverhalten, auch nach einem schlimmen Fehlverhalten, die Chance auf einen Neuanfang hat.
    Doch muss dieser Neuanfang nicht bedeuten, dass er an derselben Stelle, wie vorher weitermacht. Ein Musiklehrer zum Beispiel, der eine minderjährige Schülerin verführt und seine Machtposition ausgenutzt hat, sie an sich zu binden, sollte eine Chance auf einen Neuanfang bekommen – aber nicht mehr im Rahmen des Musikunterrichts, bei dem schon durch die intime Atmosphäre des gemeinsamen Musizierens die Gefahr einer Wiederholung sehr groß ist. Hier hat der Schutz der Kinder Vorrang vor der Chance auf einen Neuanfang. Ich kenne so einen Fall und weiß, dass der Lehrer sehr, sehr darunter leidet, dass er seine Leidenschaft, das Musizieren mit Schülerinnen und Schülern nicht mehr praktizieren kann. Nicht mehr als Musiklehrer mit Kindern und Jugendlichen arbeiten zu dürfen, heißt jedoch nicht, dass der Lehrer ein für alle Mal geächtet sein sollte. Wenn er seine Tat wirklich bereut und anerkennt, wie er den Zugang der betroffenen Schülerin zu ihrer Sexualität zerstört hat, würde ich ihm wünschen, dass er an anderer Stell einen Neuanfang machen kann, z.B. als Organist oder Orchestermusiker.
    Außerdem bin ich der Meinung, dass Politiker, die massiv betrogen haben, sich nicht einfach entschuldigen können, ein Kainsmal bekommen und dann an derselben Stelle weitermachen, wie bisher. Aber mit dem Kainsmal auf der Stirn wünsche ich Ihnen, dass sie sich an anderer – auch herausgehobener – Stelle einen Neuanfang erarbeiten dürfen.
    Ein bißchen ist es ja bei Margot Käßmann auch so gewesen. Sie hat ihr Fehlverhalten zugegeben, hat es bereut, hat sich zurückgezogen – und ist jetzt an durchaus prominenter Stelle wieder in der Öffentlichkeit.
    Ich entnehme Deinem Blogbeitrag, dass es Dir insbesondere auch um eine Kultur geht, in der Politiker und Politikerinnen nach dem Schuldeingeständnis und der Reue mit dem Kainsmal im Amt bleiben können. Meiner Meinung muss das in jedem einzelnen Fall wieder neu entschieden werden und es spielt dabei auch eine Rolle, ob das Versagen etwas mit der Tätigkeit in dem Amt zu tun hat – oder an ganz anderer Stelle geschehen ist. Ich bedaure es auch immer sehr, wenn fähige Politiker oder Politikerinnen zurücktreten müssen wegen Geschichten, die mit ihrem Amt überhaupt nichts zu tun haben. Das Wichtigste für einen Neuanfang oder auch ein Weitermachen mit dem Kainsmal ist in meinen Augen die absolute Ehrlichkeit und Reue, was die Tat angeht. Im Gegensatz zu Dir meine ich, dass dazu auch gehört, sich zunächst einmal klein zu machen, jedoch nicht, und da stimme ich Dir zu, sich in ein Mauseloch zu verkriechen. Das Problem unserer politischen Kultur ist doch, dass sich niemand klein macht und dass viele wieder auftauchen oder an ihrem Amt kleben, ohne wirkliche Reue gezeigt zu haben und stattdessen von einer Medienhetze reden und ihre Schuld verschleiern. Wenn jedoch Schuld wirklich eingestanden und die Entscheidung für einen neuen Weg glaubhaft vermittelt wird – dann wird es sicher viele Menschen geben, die wie Du es Dir wünscht, offen sind für eine Kultur des Verzeihens, gerade weil wir alle wissen, dass jeder und jede Einzelne von uns immer wieder Fehler macht.

    • Liebe Juliane, danke für deinen Kommentar. Du hast natürlich Recht, dass der kritische Punkt die Frage ist, ob jemand wirklich zu einem Fehler steht bzw. über eine Schuld erschrickt oder nur so tut. (Das Wort „Reue“ mag ich nicht so gern, vielleicht, weil es auch ein „verbrauchtes“ Wort ist). Dazu habe ich letztes Jahr einen interessanten Vortrag gehört über die sozialtherapeutische Arbeit mit Sexualstraftätern. Zu Beginn der Gruppentherapie blieb bei den meisten jedes Schuldeingeständnis oberflächlich und diente nur dazu, sich soweit anzupassen, um in der Strafanstalt überleben zu können. Im Laufe von vier Jahren Therapie kamen aber immerhin 14 von 16 Tätern an den Punkt, dass sie ihre Schuld wahrnahmen und darüber in große Verzweiflung gerieten, was eine suizidale Krise auslöste. Sie konnten schließlich als geheilt entlassen werden und hatten zehn Jahre lang keinen Rückfall mehr – soweit die Studie.
      In meinem Artikel ging es mir aber zunächst einmal um die Idee einer anderen Kultur im Umgang mit Fehlern und Schuld, die – so glaube ich zumindest – dazu führen würde, dass es für mehr Menschen leichter wäre, diese einzugestehen und dazu zu stehen. Dass es dann immer noch Probleme mit denen geben wird, die trotzdem Fehler vertuschen und Schuld leugnen oder kleinreden, ist klar, doch es wäre dann nicht mehr ein so weit verbreitetes „Normal“verhalten wie jetzt.

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