„Genug“

Von Caroline Krüger wurde der Begriff „genug“ vor mehr als zwei Jahren in unsere Vor-Gespräche zum ABC des guten Lebens eingebracht. Ich merkte sofort, dass das „Genug“ etwas mit mir und meinem Begehren zu tun hat. Wie ich das immer mache, probierte ich die Möglichkeiten dieses Begriffes von mir selbst ausgehend aus und experimentierte damit: beim Essen, beim Umgang mit Zeit, bei Tätigkeiten und beim Konsum, beim Schenken und vor allem bei der Arbeit, die ich verschenke. So entdeckte ich das „Genug“ als wunderbaren persönlichen Maßstab, der mir erlaubte, immer in der Perspektive der Fülle zu verbleiben und trotzdem sinnvolle Grenzen zu setzen, die meinem Wohlergehen förderlich waren. Was mich aber ebenso sehr interessierte, war die Frage, ob das „Genug“ auch ein politischer Maßstab werden könnte, der – ohne Fülle, Schönheit, Freiheit, Genuss, Differenz und weitere ABC-Begriffe außer Acht zu lassen und ohne allen Moralismus – zur Begrenzung von technologisch-wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungen führen könnte, die einem „guten Leben für alle“ schaden bzw. es verhindern. Mir war klar, dass ich daran im Gespräch mit anderen weiterarbeiten wollte. Ein Internetlink zu Ivan Illichs Buch „Selbstbegrenzung“ machte mich darauf aufmerksam, dass dieser Denker sich auch schon mit diesem Thema beschäftigt hat. Ich fand, dass einige seiner Überlegungen für eine politische Auseinandersetzung mit dem „Genug“ hilfreich sein könnten.

In meinem Workshop bei der Denkumenta 2013 wollte ich dann mit anderen zusammen an diesem Thema weiterdenken. Zu Beginn trugen wir in einigen Runden Statements zu einem „dankbaren“, „sehnsuchtsvollen“ und einem „abgrenzenden“ Genug zusammen anhand der vorgegebenen Satzanfänge:

 

– Ich bin dankbar, dass ich genug …  habe

– Ich freue mich, wenn ich genug …

– Mir geht es gut, wenn ich genug …

 

– Ich möchte endlich mal genug …  haben

– Ich wünsche mir genug …

– Ich sehne mich danach, genug … zu haben

 

– Davon hab ich genug, dass …

– Mir reicht es jetzt mit …

 

Wie ich es von italienischen Philosophinnen gelernt habe, gingen wir von dem aus, was wir schon haben, und von unserer Sehnsucht, vom Reichtum unseres Begehrens. Nicht von dem, was uns fehlt, vom Mangel. Beim abgrenzenden Genug ging es um ein Zuviel, das dem guten Leben schadet. Und damit lag der Schwerpunkt auch mehr auf dem guten Leben für alle als auf einem Kampf gegen das Zuviel.

Über vieles, was wir als ein Zuviel empfinden, sind wir uns schnell einig, beispielsweise Kriege, Rüstungsproduktion, Atomkraftwerke, Ressourcen- und Lebensmittelverschwendung, Zeitdruck, Arbeitsüberlastung usw., die Frage ist nur, wie diese Dinge begrenzt werden könnten und was wir dafür tun (und lassen) können oder wollen.

Ivan Illichs „Pamphlete“ aus den 1970-er Jahren richteten sich gegen ein Zuviel an etwas, von dem sich alle oder doch die meisten damals einig waren, dass es etwas Gutes ist und dass wir überall auf der Welt immer mehr davon brauchen. Vor allem wandte er sich gegen zu viel Beschulung und Expertentum, zu viel Medizin und Lebensverlängerung um jeden Preis, gegen immer höhere Geschwindigkeiten, gegen Sozialarbeit und Institutionen generell. Heute gäbe es vielleicht einen weitgehenden Konsens, dass wir überall auf der Welt immer mehr Arbeitsplätze und Energie brauchen, gegen den er sich möglicherweise stark machen würde. Illich kam zu seinen Einsichten, weil er die Welt außer aus deutsch-österreichisch-US-amerikanischer Sicht auch aus der Perspektive der Bevölkerung von Puerto Rico und vor allem von Mexico betrachtete, wo er zeitweise lebte.

Auf Englisch heißt Illichs Titel „Tools für conviviality“, ist also positiv formuliert, nicht so negativ und nach Moralismus riechend wie „Selbstbegrenzung“.

„Tools“ ist bei ihm ein sehr weit gefasster Begriff und schließt alles mit ein, was Menschen erfunden haben, „um sich fortzubewegen oder zu verweilen, als Heilmittel für Krankheiten, an Wegen und Mitteln zur Verständigung und zur Versorgung mit Lebensmitteln“. „Tools“ sind also auch Institutionen. Nach Illich gibt es bösartige Wucherungen dieser „Tools“, die einmal Fortschritt bedeutet haben, dann aber durch Experten- und Spezialistentum plus Machtkonzentration dazu führten, dass Menschen die Freiheit genommen wurde, das selbst zu tun, was sie selbst tun könnten, und sie in Arbeit und Konsum zu Sklaven der „Tools“ wurden. Menschen haben beispielsweise die Fähigkeit, „zu heilen, zu trösten, sich zu bewegen, ihre Häuser zu bauen und ihre Toten zu begraben“, schreibt Illich. Es gehe darum, in politischen Prozessen darauf hinzuarbeiten, Tools zu begrenzen, um wieder zu einer Balance zu kommen.

„Werkzeuge“, „Tools“, sind dann convivial, wenn sie dem guten Zusammenleben dienen, wenn sie uns die Freiheit lassen, sie in Anspruch zu nehmen oder auch nicht, ohne dass das Benachteiligung, Ächtung oder Abwertung nach sich zieht.

Eine conviviale Gesellschaft gewährleistet den Einzelnen freien Zugang zu den Werkzeugen, diese Freiheit wird nur um der Freiheit der anderen willen eingeschränkt. Conviviales Leben und Zusammenleben ist gekennzeichnet durch eine disziplinierte, schöpferisch-spielerische Leichtigkeit, durch eine feine Ausgewogenheit zwischen dem, was Menschen für sich selbst tun können und dem, was Werkzeuge im Dienste anonymer Institutionen für sie tun können. Eine Erhöhung des Innovationstempos ist nämlich nur sinnvoll, wenn gleichermaßen für Verwurzelung in der Tradition gesorgt, wenn eigene Lebensinhalte und Geborgenheitsgefühle gestärkt werden. Für Illich ist ein Ausschluss schädlichen Werkzeugs und die Beherrschung des nützlichen die wichtigste Priorität heutiger Politik. Denn „Werkzeuge“ können, wenn ihre Entfaltung nicht politisch begrenzt wird, von Helfern zu Herren und Meistern und schließlich zu Henkern werden.

Von einem radikalen Monopol spricht Illich, wenn in einem Lebensbereich die Freiheit, Dinge selbst zu erschaffen und zu gestalten, ganz verloren gegangen ist. (Beispiele: Tote beweinen und bestatten, Lernen versus institutionalisierter Schulung, Häuser bauen, gesunder Menschenverstand versus wissenschaftlicher Gutachten). Wenn Menschen also ihre ureigene Fähigkeit aufgeben, für sich und andere das zu tun, was sie können, um stattdessen etwas „Besseres“ zu bekommen, was ihnen nur ein wichtiges „Werkzeug“ geben kann.

Die Kosten für die Wucherungen der Tools und für die radikalen Monopole tragen schon jetzt alle Menschen, vor allem auch die, die solche Tools gar nicht brauchen oder gar keinen Zugang dazu haben.

Da nur wenig Zeit blieb, um die Nützlichkeit von Illichs Begriffen an konkreten Fragen aus dem Leben der Workshopteilnehmerinnen zu erproben, meinten diese, sie hätten noch nicht genug und baten um eine Verlängerung. Wir hängten also einen zweiten Workshop an, was sich für mich – und vielleicht auch für einige Teilnehmerinnen – im Nachhinein im Rahmen der Fülle der Tagungsangebote als ein „Zuviel“ herausstellte. Sicher werde ich bei anderer Gelegenheit und in anderen Zusammenhängen weiter über das abgrenzende „Genug“ und Illichs Anregungen dazu diskutieren. Vielleicht gelingt es ja dann, Wege zu einer politischen Begrenzung schädlicher oder ausufernder Tools zu finden.